Predigttext: 2. Korinther 5, (17-18) 19-21

Liebe Gemeinde!

In welcher Zeit leben wir, in der wir heute das biblische Wort von der Versöhnung in Christus hören? Wir leben in einer Zeit des Krieges an den Rändern Europas, streng genommen müssen wir sogar sagen: mitten in Europa. Denn wir in Deutschland sind in diesen Krieg schon lange indirekt-direkt verstrickt.

Was wir uns vor dem 24. Februar 2022 einfach nicht vorstellen konnten oder wollten: Es ist ganz nahe bei uns Krieg, wieder ein Bruderkrieg. Damit meine ich ein Krieg zwischen Menschen und Völkern, die sich „christlich“ nennen. Ein Skandal, der sich nun in geschichtsvertrauter/bekannter Weise in Europa wiederholt und wiederholt, als ob wir aus den Schrecken und Katastrophen der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte nicht oder nichts gelernt hätten. Ich zähle die großen Kriege auf, die Millionen Tote und schreckliche Verwüstungen, äußere wie innere, gebracht haben: der Dreißigjährige Krieg (1618-1648), der Siebenjährige Krieg (1756-1763), der Deutsch-Französische Krieg (1870/71), der Erste Weltkrieg (1914-1918), der Zweite Weltkrieg (1939-1945). Und immer kämpften Christen, Mitglieder und Anhänger ihrer jeweiligen Kirchen, ob protestantisch, röm.-katholisch, anglikanisch oder orthodox, bis aufs Blut gegeneinander. Bei Lichte, ich meine im Lichte des Evangeliums betrachtet: ein unfassbarer Skandal! So auch jetzt wieder: Es kämpfen russisch-orthodoxe gegen ihre ukrainisch-orthodoxen Brüder und Schwestern.

Was ist nur los? Was ist – wörtlich gemeint – so ver-rückt? Was ist so teuflisch, dass Menschen, die an den gleichen Gott, den Vater Jesu Christi, glauben, die in ihren Gottesdiensten das gleiche Glaubensbekenntnis sprechen, ganz andere Werte, Werte von Sieg und Niederlage, von Töten und Rache-nehmen gelten lassen, als die urchristlichen, wie sie uns im Predigtwort im 2. Korintherbrief klar und unmissverständlich gesagt und als Christenmenschen anbefohlen wurden und werden. Was ist nur los, was ist so verrückt?

Liebe Gemeinde, ich will versuchen, eine einfache, aber gleichzeitig komplizierte und komplexe Antwort zu geben: Es ist jeweils das Überhandnehmen des >alten< Menschen, der grundsätzlich Gott und den Nächsten, dem Nächsten und Gott feind ist. Und da dürfen wir alle, welcher Konfession und welcher Religion auch immer wir angehören (oder auch keiner), uns angesprochen wissen - ich spreche jetzt aber nur uns Christen an: Auch in Menschen, die sich >christlich< nennen, die auf den Namen Jesus Christus getauft sind und sich vielleicht sogar persönlich >gläubig< nennen, auch in uns ringt das Alte, ich meine, ringt der >alte Adam< mit dem bekehrten Adam, der an Christus, den >neuen Adam< glaubt, sich IHM zugehörig weiß und bekennt. Es ringt in uns das gegen Gott und dem Nächsten Feindliche mit dem Friedlichen, das durch und in Christus in uns und unter uns seit so langer Zeit da ist. Und die ernüchternde Wahrheit und Wirklichkeit ist: Millionenfach siegt immer und immer wieder die feindliche Gesinnung.

Das >Alte<, das sind nicht nur einzelne Christenmenschen, die davon betroffen sind, nein, viel-mehr, das sind vor allem die Einzelnen in der Verquickung und Abhängigkeit von ihrer gesellschaftlich-nationalstaatlichen Zugehörigkeit. Da lautet es, scheinbar wie ein Automatismus: Zuerst das Volk, zuerst die Nation, dann die persönliche Glaubenseinstellung, dann der Gehorsam gegen Gottes Wort, dann die Zugehörigkeit zu Christus, zu dem Friedenbringer und Versöhner der Menschheit.

Das Teuflische dabei ist doch: Die Machthaber einer Nation, die Herrscher eines Staates nutzen die Adamsverhaftetheit, nutzen die natürlich-primär-familiär-nationale Zugehörigkeit schonungslos-grausam für ihre eigenen Interessen des Überlebens und ihrer Machtverstärkung, meist ihres Größenwahnsinns, von vorne bis hinten aus. Ein Wahnsinn!

Liebe Gemeinde, ich spreche hier von der Kanzel als Bote und Prediger des Evangeliums. Deshalb erlaube ich mir nicht nur, sondern bin verpflichtet uns zu fragen: Wem gehörst Du, wem gehöre ich, wem gehören wir als christliche Gemeinde letztlich und vorletztlich an? Wem gehorche ich mehr: Gott in Christus oder einer menschlich-staatlichen oder auch religiös-institutionellen Autorität? (Lies dazu: Apostelgeschichte 5,27-29.) Die ersten Märtyrer wie Stephanus, Jakobus, Petrus und Paulus, waren in diesem Ringen um Klarheit Zeugen Jesu Christi in ihrer Zeit. Und über die Jahrhunderte hat es viele solcher klaren Zeugen gegeben. (Im vergangenen Jahrhundert denke ich z. B. an Dietrich Bonhoeffer.) Sie haben für ihr Bekenntnis mit dem Leben bezahlt. Wir leben von ihrer Klarheit, ihrem Mut, ihrem Bekenntnis in Wort und Tat. Ich denke, das verpflichtet.

Christen und viele Menschen anderer Glaubensüberzeugungen haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg ökumenisch und als Staaten und Nationen weltweit in die Pflicht nehmen lassen, sich für Frieden, Versöhnung, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit einzusetzen. So sind die Grundsätze, so ist die Charta der Vereinten Nationen (UNO) entstanden, so kam es zu den Schuldbekenntnissen der Kirchen wie dem Stuttgarter Schuldbekenntnis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) im Oktober 1945; so kam es auch zur letztlich in 1959 ausformulierten Versöhnungslitanei von Coventry und den europaweiten Nagelkreuzgemeinschaften, zu denen auch die Wallonisch-Niederländische Gemeinde gehört.

In der Bindung an Gottes Wort bekennen wir uns auch heute zu dem, was der Apostel Paulus geschrieben und bekannt hat: „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden. Aber das alles ist von Gott, der uns mit sich selbst versöhnt hat durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt“ (2. Kor. 5,17-18).

Liebe Gemeinde, das ist eine durch und durch intelligente, das meint einsichtige und durchsichtige Botschaft, auch in unseren kriegerischen Zeiten. Erkennen und durchschauen wir doch das Teuflische, also das Verdrehte in der Vermischung von Religion und Politik, von Politik und Religion! Nennen wir deutlich beim Namen, was an so vielen Orten, so auch jetzt wieder von russischer Seite behauptet wird: einen Krieg zu führen mit religiös-legitimierter Begründung. Und Kirchenführer lassen sich teuflisch missbrauchen! Ein Skandal! Deshalb plädiere ich an dieser Stelle für eine unbedingte Trennung von Staat und Kirche. Der politische Friede ist möglich und machbar aufgrund von vernünftigen und rechtkonformen Regelungen, wie sie die UNO aufgestellt hat und zu denen sich die Völkergemeinschaft klar mehrheitlich entschieden hat. Christen und Kirchen bringen sich hier ein, sind nicht besserwisserisch, unfehlbar und bevormundend. Sie bringen sich vornehmlich mit ihrem höchsten Gut, dem Evangelium und einem geschenkten versöhnlichen Gewissen ein. Und als solche üben sie auch politische Ämter in demokratischer Gesinnung aus, setzen sich im Kleinen wie im Großen für Frieden, Gerechtigkeit und für die Bewahrung der Schöpfung ein. Und dies konsequent, gewaltfrei, was aber nicht heißt: nicht abwehrfähig gegen das Böse und gegen Aggressoren.

Noch einmal: Wir Christen sind nicht die einzigen, die ein tieferes Wissen von Frieden und Versöhnung haben. Das haben andere auch. Deshalb: Lasst uns gemeinsam dafür beten und uns dafür einsetzen, hier in Hanau, der Stadt, die weiterhin unter dem schrecklichen Amoklauf vor drei Jahren leidet, und andernorts – in Deutschland, Europa und der Welt!

Und der FRIEDE GOTTES, der höher ist als unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, der unser aller Friede ist. AMEN.

wng hanau 2023 05 14