Text: Römer 8, 25-36

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,

es ist ein sperriger Text, der für diesen Jahresschlussgottesdienst als Predigtgrundlage dienen soll und uns die Perikopenordnung der Landeskirche vorschlägt. Es ist ein Text, der so voller Theologie steckt über Vorherbestimmung und Heil, dass wir vielleicht geneigt wären, uns zu wünschen, ob es nicht etwas Leichtes und Eingängiges geben könnte. Doch nicht zu schnell. Wenn man den Text vom Ende her versucht zu verstehen, dann verliert er seine Sperrigkeit in den ausgestreckten Armen Gottes.

„Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“, schreibt der Apostel.

Paare vor dem Traualtar versprechen sich öffentlich, in Familien sollte es selbstverständlich sein und unter Freunden und Bekannten ist es ein Geschenk, wenn man einander verspricht oder zusichert: „Ich halte zu dir, was auch kommen mag.“ Als ich diese Predigt vorbereitet habe, erinnerte ich mich an das Fernsehinterview mit Boris Becker auf Sat1 nach seiner Haftentlassung. Vielleicht haben das manche von Ihnen auch gesehen. Als es darin um Freundschaft ging, erzählte er, dass er Mut und Kraft aus zahlreichen Briefen geschöpft habe, die ihm Fans und Bekannte schickten. Darunter seien auch Überraschungen gewesen: „Michael Stich hat mir einen dreiseitigen Brief geschrieben“, erzählte Becker über seinen Tennis-Kollegen. Das habe ihn sehr berührt.

Auch mit manchem Mitinsassen habe er Freundschaften schließen können. Noch einmal Becker sinngemäß: „Freunde halten zusammen, auch wenn einer sich nicht korrekt verhält, aber dafür ja eine Strafe bekommt. Freundschaft endet nicht an der Gefängnismauer und beschönigt nichts, sondern Freunde können ehrlich über Schuld und Sühne sprechen.“

Eine unendlich schöne Erfahrung, wenn dies gelingt: wenn Liebespaare, Familien und Freundeskreise trotz Fehler und vielleicht aneinander schuldig werden, dennoch sagen: „Ich halte zu dir, was auch kommen mag.“

Und so will uns auch das große Apostelwort aus dem Römerbrief heute Abend bereits hinüber tragen in das neue Jahr 2023. Und mir kommt es vor, als wolle uns Paulus im Namen Gottes mit aller Eindringlichkeit dies eine ausrichten: „Ich halte sowieso zu dir.“

Unter diesem Wort können wir das Alte ehrlich anschauen. Wir können staunen über das, was war, und danken. Wir können Missratenes eingestehen, Leichtsinniges und Verkehrtes zugeben. Wir können Verwirrendes offenlegen, Dinge, mit denen wir nicht klarkommen.

Geschwister im HERRN! Vielleicht gibt es auch welche unter uns, die zu klagen haben, die aufbegehren möchten, denen das zu Ende gehende Jahr 2022 schwer zu schaffen gemacht hat: Wenn du zu mir hältst, Gott, dann lass es mich bitte auch spüren! Ich hab‘ deinen Rückhalt nämlich verdammt nötig!

Und doch gilt: „Gott ist für uns.“ Vielleicht wird uns die Tragweite dessen noch bewusster, wenn wir uns für einen Augenblick vorstellen, es wäre anders. Gott wäre gegen uns.

Er würde zum Beispiel sagen: „Ich kenne dich; auch die Dinge, die du zu verbergen suchst. Ich weiß, was ich von dir zu halten habe. Sieh zu, wie du klarkommst. Ohne mich! Ich bin gegen dich.“

Unter solchen Sätzen zieht sich doch das Herz zusammen. Wir verschließen uns. Nein. Gott ist für uns. „Ich halte zu dir.“ Das gilt. Wer so spricht, heißt zwar nicht alles gut, was wir tun, reden und denken. Aber er will, dass es uns gutgeht. Und er tut das Seine dafür. Gott setzt mit Jesus Christus auf die Liebe als Kraft, unter der das Gute aufblüht und die das Böse aushält, begrenzt und überwindet.

Aus dem „Ich halte zu dir“ wird zu Zeiten ein tröstliches „Ich halte trotzdem zu dir“. Mit den Worten des Apostels: „Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja vielmehr, der auch auferstanden ist, der zur Rechten Gottes ist und uns vertritt“, (V 33f) schreibt der Apostel.

Die Tage zwischen den Jahren. Die Stunden an der Schwelle zum Neuen Jahr. Was wird es bringen und schenken? Was wird es nehmen und fordern? Haben Sie Angst oder sind Sie gespannt? Ich mag zum Jahreswechsel die bekannte biblische Geschichte vom Fischen, die wir als Evangelium eben gehört haben.

Eines Nachmittags sprach Jesus am Ufer des Sees Genezareth und eine Menschenmenge drängte sich um ihn. Da sah er Petrus und einen anderen Fischer, die in der Nähe ihre Netze wuschen. Jesus stieg in ein leeres Boot und bat Petrus, auf den See zu fahren, damit er vom Wasser aus zur Menge reden konnte. Petrus war einverstanden. Dann, als er seine Predigt beendet hatte, sagte Jesus zu Petrus: „Jetzt fahre noch weiter hinaus, wo das Wasser tiefer ist, und fange Fische.“

„Aber Jesus“, meinte Petrus, „ich habe mich schon die ganze Nacht abgemüht und nichts gefangen.“ Seine Anstrengungen waren ohne Ergebnis geblieben. Aber als er die Aufforderung Jesu hörte, da tat Petrus, was von ihm verlangt wurde. Und plötzlich spürte er nicht mehr nur das Gewicht des Netzes in seiner Hand, sondern es wurde schwerer und schwerer: Das Gewicht eines großen Fanges.

Alles, was Jesus ihm eigentlich gesagt hatte, war: Fange noch einmal von vorne an. Hier liegt die Chance auch für das neue Jahr. Was sagt Jesus zu uns, wenn das alte Jahr 2022 nicht gerade toll gewesen ist? Er sieht uns an und sagt nicht: Schade. Nein, er sagt: Fang von vorne an! Ich halte zu Dir, ergänzt der Apostel.

Immer wieder, wenn Sie denken, Sie sollten aufgeben und – im Bild der biblischen Geschichte – es gibt keine Fische mehr, die Saison ist gelaufen, werden Sie von Jesus hören: Fang nochmal von vorne an. Ja, es ist wahr, dass wir manchmal dazu neigen, enttäuscht zu sein und zu glauben, dass es keine Fische mehr zu fangen gibt. Und wir fangen auch nichts. Und schließlich erwarten wir auch nichts mehr. Aber vielleicht können wir uns alle für 2023 vornehmen, (wieder) mehr mit Gott zu rechnen, der auf unserer Seite steht.

Begrenzen Sie nicht die Größe Gottes, die Macht Gottes. Beschränken Sie nicht die Größe von Gottes Traum und Vorsehung für Ihr Leben. Vielleicht klingelt im kommenden Jahr an einem bestimmten Tag das Telefon oder ein Brief, eine Mail kommt - wonach Sie sich schon lange gesehnt haben. Oder Ihnen kommt eine unglaubliche Idee in den Sinn, was Sie schon immer einmal machen oder erleben wollten.

Das alles sind Momente, in denen Gott zu Ihnen kommt. Und mehr noch: Begrenzen Sie nicht das Leben Ihres Traums. Wenn Sie meinen, Ihre Träume wären tot oder würden gerade sterben und es wird nichts daraus, denken Sie daran, Gottes Träume haben kein Verfallsdatum. Und vielleicht werden in 2023 gerade diese Träume wahr!

Vielleicht halten Sie, meine Lieben, mich nun für einen Träumer. Aber ich fühle mich dabei in guter Gesellschaft. Der Reformator Johannes Calvin zum Beispiel, dessen Bild nun auch im Klarenthaler Amtszimmer hängt, schreibt nämlich: „Unter Gottes Vorherbestimmung verstehen wir Gottes ewige Anordnung, durch die er selbst beschlossen, was nach seinem Willen aus jedem einzelnen Menschen werden sollte.“ Unser Leben ist keine Kette von Zufällen, sondern ein unsichtbarer Faden zieht sich von einem Jahr ins nächste. 

„Ich bin gewiss“, sagt Paulus. Und es klingt, als würde seine Gewissheit auch für uns mit reichen. Für den Fall, dass es uns an solcher Gewissheit fehlen sollte. „Ich bin gewiss“, bekennt er in der Hoffnung, dass seine Gewissheit auf alle überfließt, die dieses Wort hören. „Ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch eine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn“ (V 38f).

So vieles wird geschieden und getrennt unter uns. Aber diese Liebe bleibt. Sie bleibt, weil sie allein in Gottes Leidenschaft für uns gründet. In nichts sonst. Nicht in unserer Schönheit; nicht in unserer Gesundheit; nicht in unserem Können; nicht in unserem Wohlverhalten. Das alles ist brüchig. Allein in Gottes Leidenschaft hat diese Liebe ihren Grund.

Darum ist sie verlässlich. Darum kann uns nichts von ihr scheiden. Wäre Gottes Liebe in irgendetwas anderem begründet - und sei es in unserem Glauben -, dann wäre sie nicht verlässlich. Denn wer kann denn für seinen oder ihren Glauben garantieren? Wenn wir nur halb so ehrlich sind wie Paulus, ahnen wir, wie sehr die Dinge, die er hier aufzählt, unserem Glauben zusetzen können: Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Gewalt.

Wir dürfen übertragen und die Liste weiterschreiben: Krankheit; Betrug, Sucht; dass Menschen miteinander nicht mehr zurechtkommen; die ständige Überforderung bei der Arbeit; dass Gott mir das Liebste genommen hat, etc. … Wenn Gottes Liebe von uns abhinge, und sei es von unserem Glauben, dann könnten wir einpacken.

Dann könnte uns in der Tat viel von ihr trennen. Aber nein, beharrt Paulus, weder Tod noch Leben kann uns scheiden von der Liebe Gottes.

Auch wir selbst können uns nicht trennen von Gottes unbegreiflicher Liebe! Wir können Gott vergessen im Glück, verraten im Unglück, ihn verlieren in der Anfechtung, ihn verleugnen unter Druck, ihn verdrängen, um besser durchzukommen. Aber von seiner Liebe können wir uns nicht trennen. Niemals werden wir ihn dazu bringen, uns nicht mehr zu lieben. Er hat sich festgelegt in Christus. Gott setzt auf die Liebe. Er weiß, dass wir sie brauchen.

Durch sie will er uns und diese Welt zurechtbringen, erfrischen und erneuern. Sie soll uns einhüllen, wenn wir zurückblicken. Sie soll uns den Blick färben, wenn wir vorausblicken, was wohl kommen mag im vor uns liegenden Jahr. Und wenn wir üben, uns zu ändern oder etwas zu verändern, dann leite sie uns. Es bleibt dabei: „Ich halte sowieso zu dir.“

So scheint in dieser Stunde im Sinne des Predigttextes die Jahreslosung für 2022 noch einmal hell auf: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen“ (Johannes 6,37). Aber auch die Losung für 2023 wirft ihre Schatten voraus: „Du bist ein Gott, der mich sieht.“ 1. Mose 16 ,13

2022 geht zu Ende – das dritte Jahr in der Pandemie, deren Ende in Sicht; das Jahr mit dem Ukraine-Krieg, dessen Ende nicht greifbar ist. Ein Jahr großer und kleiner Freuden, aber auch großer und kleiner Katastrophen – in der Welt, wie auch im persönlichen Leben.

Ganz gleich wie es war oder werden wird: Was auch kommen mag, es gilt: „Ich halte zu Dir!“ Und wenn es nötig ist: „Fang noch einmal von vorne an.“ Gott segne unser Kommen und Gehen, Hoffen und Bangen. Dies wünsche ich uns und bezeuge es im Namen Jesu Christi. AMEN!

gehalten von Pfr. Torben W. Telder
Ev. Kirche Gersweiler