400. Todestag von Landgraf Philipp Ludwig II. von Hanau-Münzenberg

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,
liebe Gäste im Tempel unseres Glaubens,

um was geht es in der Weltgeschichte? Manche sagen, es ist eine Geschichte von Krieg und Morden. Andere sagen, dass es eine Geschichte von sich abwechselnden Kulturen und Zivilisationen ist. Oder aber ist es die zeitliche Abfolge von Aufstieg und Fall verschiedener Mächte und Nationen?

Das alles hat seine Richtigkeit, aber ich denke, Geschichte ist doch mehr als das. Als Christ nämlich glaube ich, dass die Weltgeschichte auch die Geschichte Gottes und seiner Führung bzw. Lenkung ist. Geschichte ist für mich das Aufleuchten von Gottes Willen zum Leben durch die Jahrhunderte hindurch, von der einen Generation zur nächsten.

Der heutige Predigttext aus dem Buch Esra führt uns über zweieinhalb Jahrtausende zurück. Und dieses Buch Esra ist ein gutes Beispiel dafür, wie Menschen in früheren Zeiten die Geschichte theologisch gedeutet haben. Von Menschen, die daran glaubten (und glauben), dass es eine Vorsehung Gottes über alle Menschen und Nationen gibt.

Und diese Vorsehung, so unverständlich uns manches dabei auch sein mag, ist zu allererst Bewahrung. Allen Kriegen, Wirtschaftskrisen, Diktaturen, Vertreibungen, Entführungen und Verfolgungen zum Trotz bleibt es am Ende doch die Liebe Gottes zu den Seinen, die sie bewahrt. Und immer wieder gebraucht Gott dafür Menschen, die als Einzelne Werkzeuge des Friedens werden können.

So lese ich den Predigttext aus Esra 1, 1-11.

Geschwister im HERRN, manchmal kann man von Sternstunden der Wissenschaft sprechen, wenn etwas Unvorhergesehenes passiert. Ein solcher Moment war wohl 1879, als Forscher bei Ausgrabungen in Babylon den Kyros-Zylinder fanden. Auf diesem Tongefäß fand man dann auch jene Worte in Auszügen, die wir eben als Predigttext gehört haben.

Diese Worte haben bis heute eine politische Dimension: 1971 wurde nämlich der Kyros-Zylinder von den Vereinten Nationen als „Erste Menschenrechtscharta“ bezeichnet und in allen offiziellen UN-Sprachen veröffentlicht. Es wurde eine Kopie des Zylinders gefertigt, welche heute im Hauptquartier der UN in New York ausgestellt ist. Das Original befindet sich  im British Museum in London.

Dieses Kyrus-Edikt stellt in meinen Augen eine der größten Sensationen der Geschichte des Altertums dar. Da erlässt ein heidnischer König, der über das größte Reich der damaligen Welt herrschte, ein Edikt, das einem unterlegenen, eigentlich unbedeutenden Volk erlaubt, den Tempel ihres Gottes in ihrer Heimat wieder aufzubauen und außerdem die gesamte Kriegsbeute wieder mitzunehmen! Der Textabschnitt macht uns glauben, dass dies durch Gott selbst motiviert wurde.

Es ist auch historisch belegt, dass der Tempel in Jerusalem im Zuge dieses Erlasses wieder aufgebaut wurde. Kyrus steht zu seinem Wort. Das Exil ist beendet. Der Weg ist frei nach Hause – nach Hause, wo auch Gott wieder wohnen wird und angebetet werden kann.

Fast zwei Jahrtausende später ereignete sich ein ähnlicher Vorgang, nicht im Brennpunkt der Weltgeschichte, aber doch als die Geburtsstunde unserer Wallonisch-Niederländischen Kirche in Hanau.

Unsere Glaubensvorfahren waren nach einer Odyssee durch halb Europa in der Mitte des 16. Jahrhunderts nach Frankfurt gekommen und wähnten sich dort in Sicherheit, ihren reformierten Glauben öffentlich leben zu dürfen. Ein Trugschluss. Bereits 1562 wurde der Gottesdienst wieder verboten. Und so zogen bereits die ersten Familien weiter gen Süden, wo sie in Frankenthal Aufnahme fanden.

Der dortige Pfalzgraf schloss am 13. Juli 1562, also vor 450 Jahren, ebenfalls eine Kapitulation mit den 60 niederländischen Familien unter der Führung ihres Predigers Piet Daets und die Niederländische Gemeinde entstand. 1578 folgen  36 wallonische Familien aus Heidelberg, die eine eigene Gemeinde bildeten. Durch die Wirren der Zeit erleben beide Aufstiege, Abstiege und Wiederentstehungen, bis schließlich 1818 eine „Vereinigte protestantisch-evangelisch-christliche Kirche“ gebildet wurde – also im selben Jahr, in dem unsere Kirche ihre Unabhängigkeit in der Hanauer (Kirchen-)Union behauptet hat. Aber dies ist schon zu weit in der Geschichte vorweg gegriffen.

Denn zurück in Frankfurt verhandelten die dort ausharrenden Glaubensflüchtlinge seit 1594 mit jenem jungen Grafen, dessen Todestages wir heute gedenken. Graf Johann VI. von Nassau-Dillenburg übte zwar noch anfänglich die Vormundschaft über den minderjährigen Grafen aus, aber die calvinistische Reformation in Hanau-Münzenberg war schon eingeleitet.

Nach dem frühen Tod des Vaters, Philipp Ludwig I., hatte seine Mutter Magdalena 1581 Graf Johann VII. von Nassau-Siegen geheiratet. Dadurch kamen Graf Philipp Ludwig II. und sein jüngerer Bruder, Graf Albrecht, an den Nassau-Dillenburger Hof, der ein Zentrum der reformierten Glaubensrichtung in Deutschland war.

Philipp Ludwig II. besuchte wohl ab 1585 die Hohe Schule in Herborn, zunächst als Student, 1589 war er für ein Jahr sogar Rektor der Hohen Schule und 1590 wieder Student. Ab 1591 besuchte er die Universität Heidelberg. Sowohl die Hohe Schule Herborn als auch die Universität waren Zentren reformatorischer Bildung. Von 1593 bis 1595 besuchte er mehrere Universitäten im europäischen Ausland. Durch seine Heirat 1596 mit Katharina Belgica wurde er nicht nur der Schwiegersohn von Wilhelm I. von Oranien-Nassau, sondern auch  vorzeitig für mündig erklärt.

Ehe es zu einem Vertragsschluss kam, gestattete der gerade einmal 18-jährige den Flüchtlingen, auf seinem Territorium vor den Toren Frankfurts in Bockenheim Gottesdienste zu feiern. (Bereits an Weihnachten 1594 hatte sein Vormund in der Hanauer Schlosskapelle reformierte Gottesdienste zugelassen, was damit wohl das eigentliche Geburtsdatum unserer Kirche sein müsste.)

Der junge Graf wollte sich diese einmalige Chance nicht entgehen lassen, gewerbetreibende und teilweise wohlhabende Glaubensgenossen in seinem Gebiet anzusiedeln. Diese Ansiedelung war seitens der Flüchtlinge mit Wünschen verbunden: neben der freien Religionsausübung zu allererst die unbedingte Freiheit, ohne Einflüsse von außen in der Berufung und Wahl ihrer Prediger, was bis auf den heutigen Tag verteidigt wird.

„Und alle, die um sie her wohnten, halfen ihnen mit allem, mit Silber und Gold, mit Gut und Vieh und Kleinoden außer dem, was sie freiwillig gaben. Und der König Kyrus gab heraus die Geräte des Hauses des HERRN, die Nebukadnezar aus Jerusalem genommen und in das Haus seines Gottes gebracht hatte.“ (Verse 6f.)

wng-1203-56Liebe Gemeinde, was Kyros damals machte, verwundert schon: dass er selbst Teile seines Reichtums abgab, um den Tempelbau und die Rückkehr zu finanzieren. Ich staunte nicht schlecht, als ich in den Annalen las, dass auch Philipp Ludwig II. sich bereit erklärte, nachdem eine beachtliche Anzahl von Glaubensflüchtlingen sich verpflichtet hatte, in Hanau Häuser zu bauen, die Erschließungskosten für Befestigungs-, Straßen- und Wasseranlagen zu übernehmen. Auch einem Hafenausbau stand er nicht im Weg und handelte eine eingeschränkte Besteuerung mit den Neubürgern aus, die die Neustadt Hanau besiedeln sollten. Haben wir es hier mit selbstlosen Menschen zu tun?

Kyros, der anscheinend zwar die individuellen Glaubensrichtungen in anderen Ländern respektierte, beschnitt jedoch in den eroberten Staaten konsequent die Befugnisse größerer Tempel und Heiligtümer, um deren Macht- und Wirkungsbereich zu schwächen. Für die Kontrolle und Verwaltung der Sakralbauten wurde sogar das Amt des königlichen Kommissars geschaffen, der jeweils vor Ort die staatliche Macht repräsentierte. Die spätere Würdigung des Kyros-Ediktes als „Erste Menschenrechtscharta“ gilt also wohl nicht uneingeschränkt.

Und Philipp Ludwig II.? Mein Amtsvorgänger, Pfarrer Walter Schlosser – seligen Angedenkens –,  würdigte anlässlich der Wiedererrichtung des Denkmales 1988, an dem auch wir uns gleich versammeln werden, das Wirken mit folgenden Worten: „Das Werk Philipp Ludwigs II. bestand vor allem darin, dass er gemeinsam mit seinem Schwiegervater, dem Prinzen Wilhelm von Oranien, zu den frühen Gestalten der europäischen Freiheitsgeschichte gehört. [...] Philipp Ludwig gewährte nicht nur den Fremden Raum, die seine Glaubensgenossen waren, sondern gestattete im Jahre 1604 auch einer jüdischen Gemeinde Heimstatt in Hanau.“

Ich denke, dies wirft ein einseitiges, zu positives Bild auf den Grafen. Und ich finde mich darin bestätigt bei einem meiner Amtsvorgänger seligen Angedenkens, Pfarrer Carl Nessler, der zu einer kritischeren Würdigung gelangte: „Welche Folgerungen  müssen wir aber hieraus für den Charakter und die Sinnesart des Grafen ziehen? Ist das Toleranz? Ist das der Standpunkt eines Friedrich II. von Preußen, in dessen Reich ein jeder nach seiner Façon selig werden kann? Weit entfernt! [...] Wie der Fürst sollten aber auch die Untertanen denken, den gleichen Glauben bekennen wie ihr Landesvater; erwies er ihnen doch damit die größte Wohltat, dass er ihnen einen flachen Glauben nahm und sie mit dem allein richtigen beschenkte.

[...] Wenn die Flüchtlinge aus den Niederlanden Katholiken oder Lutheraner gewesen wären, so hätte Philipp Ludwig in seinem Leben nicht daran gedacht, ihnen ein Heim auf seinem Grund und Boden anzubieten.“ (S.17) „Dem widerspricht nicht, dass er die `Judenstettigkeit´ einige Jahre später erließ. […] Juden waren damals unentbehrlich, wo Handel getrieben wurde. Auch war die Duldung, die er ihnen gewährte, von der Gleichberechtigung, die sie in unserem Jahrhundert erlangt haben, noch weit entfernt.“ (S.14)

Und dennoch heute ein Gedenkgottesdienst, meine Lieben? Vieles hängt daran, wie wir Geschichte betrachten; ob wir nämlich die roten Fäden durch die Wirren der Zeiten hindurch verfolgen können.

Als sich die Israeliten zur Zeit Esras auf den Weg machten, wussten sie nicht, was sie in Jerusalem erwarten würde. Und als unsere Glaubensvorfahren aus den spanischen Niederlanden flüchteten, wussten sie auch nicht, wohin die Reise gehen würde. Aber sie alle gingen los, weil sie nicht nur einen starken Glauben hatten, sondern auch darauf vertrauten, dass Gott selbst in ihre Geschichte eingreifen würde, selbst durch einen Mächtigen wie Kyros.

400 Jahre nach dem letzten Atemzug des bereits mit 36 Jahren verstorbenen Landgrafen sind wir als Wallonisch-Niederländische Kirche immer noch der Fingerzeig Gottes – des Gottes, der damals in die Geschichte eingriff und bis heute segnend seine Hände über uns hält. Deshalb brauchen wir auch keine Angst vor morgen oder den kommenden Jahren zu haben. Warum? Weil Gott der HERR der Geschichte ist.

In einem Sitzungsprotokoll von 1852 fand ich entsprechend eine Notiz von meinem Amtsvorgänger seligen Angedenkens Samuel Cramer, der 48 Jahre Pfarrer unserer Kirche war: „Die Vorsehung, welche sich dahier eine Kirche wie die unsrige hat gestalten lassen, wird sie auch erhalten, wenn in ihre Glieder mehr Geist kommt, der sie gegründet hat.“ Gott bediente sich Philipp Ludwigs II. als Werkzeug seiner Geschichte mit unserer Kirche.

Pfarrer Jean B. Leclercq – seligen Angedenkens – stellt 1868 in seinem Buch über unsere Kirche(n) fest: „[Philipp Ludwig] schien die Vorsehung ausdrücklich für sie bestimmt zu haben. Gott hatte sie ganz gewiss füreinander bestimmt: die fremden Kirchen zum Ruhme des Prinzen und den Grafen zum religiösen und irdischen Segen dieser Gemeinden. Die Vorsehung hatte also ihre Kirche auf dem schweren Weg der Verfolgung nicht verlassen.“ (S. 319f.)

Schließen möchte ich nicht mit den Worten eines Pfarrers, sondern eines Präses-Ältesten, die nach reformiertem Kirchenverständnis die Kirche leiten. Es wurde vor 50 Jahren aus gleichem Anlass von Dr. Werner Canthal gesprochen: „Die Wallonisch-Niederländische Gemeinde, die sich als die Hüterin der von den Vorfahren überlieferten Traditionen fühlt, gedenkt in Ehrfurcht und Dankbarkeit des Grafen Philipp Ludwig II., der heute vor [400] Jahren die Augen zur letzten Ruhe schloß.“

„Gedenke der vorigen Zeiten und hab Acht auf die Jahre von Geschlecht zu Geschlecht. Frage deinen Vater, der wird dir‘s verkünden, deine Ältesten, die werden dir‘s sagen.“ (5. Mo. 32,7) singt Moses in seinem Abschiedslied nach einem erfüllten Leben. Unsere Vergangenheit ist unsere Zukunft, über der der Segen liegt: „Der Gerechte wird grünen wie ein Palmbaum und wird bleiben im Hause des HERRN.“ (Ps. 93)

Darauf hoffe ich, davon predige ich und bezeuge es im Namen Jesu Christi. AMEN!

 

um was geht es in der Weltgeschichte? Manche sagen, es ist eine Geschichte von Krieg und Morden. Andere sagen, dass es eine Geschichte von sich abwechselnden Kulturen und Zivilisationen ist. Oder aber ist es die zeitliche Abfolge von Aufstieg und Fall verschiedener Mächte und Nationen?
Das alles hat seine Richtigkeit, aber ich denke, Geschichte ist doch mehr als das. Als Christ nämlich glaube ich, dass die Weltgeschichte auch die Geschichte Gottes und seiner Führung bzw. Lenkung ist. Geschichte ist für mich das Aufleuchten von Gottes Willen zum Leben durch die Jahrhunderte hindurch, von der einen Generation zur nächsten.
Der heutige Predigttext aus dem Buch Esra führt uns über zweieinhalb Jahrtausende zurück. Und dieses Buch Esra ist ein gutes Beispiel dafür, wie Menschen in früheren Zeiten die Geschichte theologisch gedeutet haben. Von Menschen, die daran glaubten (und glauben), dass es eine Vorsehung Gottes über alle Menschen und Nationen gibt.
Und diese Vorsehung, so unverständlich uns manches dabei auch sein mag, ist zu allererst Bewahrung. Allen Kriegen, Wirtschaftskrisen, Diktaturen, Vertreibungen, Entführungen und Verfolgungen zum Trotz bleibt es am Ende doch die Liebe Gottes zu den Seinen, die sie bewahrt. Und immer wieder gebraucht Gott dafür Menschen, die als Einzelne Werkzeuge des Friedens werden können.
 

Torben W. Telder, vdm
Es gilt das gesprochene Wort.

 

 


 

 

Die Seitenangaben beziehen sich auf die Jubiläumsfestschrift zur 300-jährigen Wiederkehr des ersten Gottesdienstes in der Wallonischen Kirche.