von Pfarrer Marcin Brzóska, Präsidium derGemeinschaft ev. Kirchen in Europa
Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit euch allen. Amen.
Sehr geehrter Herr Pfarrer Telder,
sehr geehrte Mitglieder des Konsistoriums, liebe Festgemeinde,
es ist mir eine große Freude und Ehre, dass ich an diesem besonderen Tag an dem Jubiläum Eurer Kirchengemeinde teilnehmen darf. Ich freue mich, dass ich Euch heute ganz herzliche Grüße und Segenswünsche von Schwestern und Brüdern – evangelischer Christinnen und Christen, die von Portugal bis nach Russland und von Island bis nach Griechenland leben und gemeinsam die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa bilden, überbringen darf.
Seit nun fast 50 Jahren verbindet die GEKE evangelische Kirchen in Europa, die sehr unterschiedlich sind. Es gibt in unserer Gemeinschaft Mehrheitsund Minderheits-Kirchen, Volkskirchen und Kirchen der Diaspora. Wir leben in verschiedenen sozialen, politischen, gesellschaftlichen und auch religiösen Verhältnissen. Doch auch bei so vielen Unterschieden, bei so stark ausgeprägten Diversitäten, bilden wir die eine Kirche Jesu Christi.
Zum Leben der Kirche gehört auch das Feiern, so freue ich mich, dass ich heute gemeinsam mit Euch als Vertreter des Rates und des Präsidiums der GEKE feiern darf. Ich freue mich, dass wir heute vor Gott unsere Dankbarkeit zum Ausdruck bringen können.
Als ich nach einem Bibelwort für die heutige Predigt suchte, ist mir sofort das Wort des Paulus an die Römer eingefallen: „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“
Natürlich sind wir mit unseren fröhlichen und dankbaren Gedanken an den 1. Juni 1597, also an dem Tag der Gründung Eurer Gemeinde hier in Hanau. Doch eigentlich beginnt die Geschichte viele Jahre früher in den niederländischen Provinzen, an der heutigen Grenze zwischen Belgien und Frankreich.
Die Reformationsgedanken erreichen auch dieses Land und seine Bewohner. Doch aus politisch religiösen Gründen werden sie gezwungen das Land zu verlassen. Sie werden zu Vertriebenen, Flüchtlingen, Migranten. Sie gehen zuerst nach England, doch sie finden dort keine Ruhe. Sie fühlen sich gezwungen weiter zu gehen und kommen nach Frankfurt, doch auch dort finden sie keinen Ort für sich. Diesen Ort finden sie erst hier in Hanau. Sie bauen die Stadt eigentlich neu auf. Sie sind tatsächlich ein Segen für dieses Land – und das bis heute!
Die Wallonisch-Niederländische Kirche in Hanau trägt ein kostbares Erbe. Dieses Erbe ist das kompromisslose Gottvertrauen und der Mut, Gottes Wege zu gehen.
In dieser Woche vor Pfingsten müssen wir uns die Frage stellen: Was ist eigentlich die Kirche. Was heisst es, eine Kirche haben und eine Kirche sein?
Einerseits gibt die Kirche eine gewisse Stabilität, die der Mensch im Leben sucht und braucht. Sie ist ein Orientierungspunkt – und dabei meine ich nicht nur die Kirche als Gebäude, das die Silhouette der Stadt prägt, sondern auch als eine spirituelle Basis.
Aber andererseits ist die Kirche eine Strömung. Das Wesen der Kirche ist Bewegung, Veränderung. Diese Bewegung wird im Christentum unterschiedlich wahrgenommen und genannt. Als evangelische Christinnen und Christen benutzen wir dafür den Begriff Reformation.
Reformation ist ein Aufruf zur Veränderung, zu einer Umgestaltung in unserem Leben. Es ist ein Aufruf zur Bewegung, zum Mut, neue Schritte zu machen und neue Wege zu gehen. Aber vor allem ist es ein Aufruf zur Metanoia – zur Veränderung unserer Gedanken, der Art und Weise in der wir Gott, den Menschen – auch uns selbst und die Welt sehen. So gesehen ist die Reformation nicht ein Ereignis aus der Vergangenheit, sondern unsere Gegenwart!
Wir lesen und hören heute die Botschaft des Apostels Paulus an die Christinnen und Christen in Rom. Für mich ist es eindeutig eine Reformationspredigt.
Paulus schreibt an die junge Gemeinde von der Wirkung des Heiligen Geistes. Schwestern und Brüder! Wir haben den Heiligen Geist empfangen – den gleichen Geist, den auch die Apostel am Pfingstmorgen empfangen haben. Sie sind dann auf die Straßen Jerusalems gegangen und haben von Jesus erzählt: fröhlich, mutig und frei! Der Geist erinnerte sie an die Botschaft Jesu von Gott dem Vater, von Gottes Liebe und Gnade, von der Freiheit.
Paulus schreibt also an die Römer: Vergesst nicht! Zweifelt nicht! Schlaft nicht ein! Ihr habt den gleichen Geist empfangen. Er führt auch Euch in ein neues Verhältnis zu Gott – in das Verhältnis von Kindern zum Vater, geprägt von Vertrauen und Liebe. Deshalb: Fürchtet Euch nicht! Habt keine Angst! „Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater!“
Fürchtet Euch nicht, Euer Leben zu reformieren – verändern, neue Wege zu gehen, anders zu handeln und anders zu denken. Fürchtet Euch nicht frei zu sein, mutig, fröhlich und voller Leben und Hoffnung.
Lasset Euch von Gottes Geist treiben! „Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“ Was heißt das: sich treiben lassen? Ich habe ein Bild vor Augen: Ein Segelbot. Wind und Strömung treiben es voran. Es nähert sich dem neuen Land. Sich treiben lassen heißt einerseits aufgeben, auf eine gewisse Weise auf den eigenen Willen verzichten. Aber andererseits heißt es Vertrauen und Gottes Werk tun, wohin wir geschickt werden. Gottes Willen und die Berufung erkennen.
Ich stelle mir und Euch die Frage: Wohin treibt uns heute der Heilige Geist?
Lasst uns an zwei Geschichten erinnern – eine aus dem Alten und eine aus dem Neuen Testament.
Die alttestamentliche Geschichte erzählt von dem Propheten Elia. Er verkündigt König Ahab Gottes Strafe. Aber bevor Ahab zornig wird, sagt Gott zu Elia: Du musst fliehen! Elia geht zuerst an den Bach Kerit, aber dann treibt ihn Gott weiter – in ein Dorf namens Sarepta. Für Elia ist es ein fremdes, heidnisches Land. Dort begegnet er einer Frau. Sie ist Witwe, hat einen Sohn und nichts zu essen. Sie hat auch keine Hoffnung mehr, keine Kraft weiterzumachen. Sie ist am Ende. Erschöpft wünscht sie sich und ihrem Sohn den Tod: Einschlafen und nie wieder aufwachen. Elia war selbst erschöpft. Er hat kein Getreide, aber er vertraut Gott. Voller Vertrauen geht er in ihr Haus. Durch ihn – den Mann Gottes – passieren dort Wunder. Das Brot ist wieder da und die Hoffnung und die Lebensfreude.
Die zweite Geschichte erzählt von dem Apostel Philippus. Der Engel befiehlt ihm aufzustehen und in Richtung Gaza zu gehen. Gott schickt ihn in die Wüste. Dort trifft er einen Mann – den Diener der Königin von Äthiopien. Teurer Wagen, schöne Kleider, doch Philipus sieht mehr. Er sieht einen armen Mann, der so viele Fragen hat, die sein Leben betreffen und keine Antwort findet. Er hat sogar die lange, teure und anstrengende Reise nach Jerusalem unternommen, um Gott so nahe wie möglich zu kommen und ihm diese Fragen zu stellen. Der Geist treibt Philippus weiter. Er soll noch näher kommen, er soll ins Gespräch kommen mit dem fremden Mann. Er soll ihm von Jesus erzählen. Das tut er auch. Das Evangelium verändert das Leben des Mannes... oder vielleicht sogar das Leben der beiden Männer.
Ja, der Geist treibt auch uns heute. Er treibt uns zu einer Begegnung mit Menschen in der materiellen und seelischen Not. Ich denke jetzt an die Milionen von Flüchtlingen aus der Ukraine, die auf der Suche nach Sicherheit und Frieden ihre Heimat verlassen haben.
Er treibt uns auch zu den Fremden, den Andersgläubigen – wie damals, als Elia nach Sarepta ging – in das Land der Heiden. Er treibt uns zu Menschen, die erschöpft und verzweifelt sind. Und er treibt uns auch dorthin, wo Menschen nach dem Sinn ihres Lebens suchen, damit wir ihnen mit Wort und Tat von Jesus Christus erzählen – von Gottes Liebe und Gnade und von dem neuen Leben, das wir in IHM haben.
Aber er treibt uns auch in die Stille des Gebets. Er treibt uns zum Bücherregal, wo unsere Bibel ist. Er treibt uns hierher, in die Gottesdienstgemeinschaft damit wir die Antwort finden: Was heißt es eigentlich, ein Christ zu sein? Was heißt es, einen gnädigen Gott in Christus, dem Gekreuzigten finden? Er treibt uns dorthin, wo wir uns selbst besser kennenlernen.
Ja, es ist nicht einfach: sich treiben lassen. Da müssen wir einiges in uns verändern und neu entdecken.
Schwestern und Brüder – wir sind frei für die Reformation. Wir sind frei für die neuen Wege. Frei für neue Gedanken und frei für die Liebe.
Denn Freiheit ist nicht die Frucht der Reformation, sondern die Reformation, die Veränderung ist die Frucht der Freiheit, die wir duch Jesus Christus und in Jesus Christus haben.
„Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“
„Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Philipper 4,7“
Amen.