am 19.3.2022 Pfarrerin Antje Biller – Leitungskreis Nagelkreuzgemeinschaft

Liebe Schwestern und Brüder,

„Es kann vor Nacht leicht anders werden, als wie’s am frühen Morgen war“, heißt es in einem alten Kirchenlied. Wie wahr... Als Sie hier begonnen haben, den heutigen Abend vorzubereiten, als Bruder Telder die Nagelkreuz-Gemeinschaft eingeladen hat, an diesem Evensong mitzuwirken, selbst als wir vor nicht allzu langer Zeit deswegen den ersten Kontakt hatten, da war die Welt noch ein anderer Ort. An Corona hatten wir uns gewöhnt, das Leben mit den Schutzmaßnahmen ist längst zur Normalität geworden. Mir ist es neulich passiert – und vielleicht kennen Sie das auch: Ich habe einen Kollegen aus der Schule, der mir ohne Maske in der Stadt begegnete, nicht erkannt. Als er zum Gespräch die Maske wieder aufzog, die Augen und der Haarschopf über dem Drahtbügel, erst da sah er wieder vertraut aus.

Der Klimawandel wird endlich angepackt, das war das hoffnungsfrohe Gefühl bei vielen, seitdem im Dezember eine neue Regierung ihre Arbeit aufgenommen hat. Alle kleinen, eigenen Bemühungen bekommen nun mehr Rückenwind aus der großen Politik, so der Eindruck. Und ja, schon seit Monaten spielte der russische Präsident seine Spielchen an der ukrainischen Grenze. Aber wir alle, die ganze
Welt hat doch aus dem 2. Weltkrieg gelernt, soweit wird er es doch nicht treiben...

Als Sie hier begonnen haben, den heutigen Abend vorzubereiten, als Bruder Telder die Nagelkreuz-Gemeinschaft eingeladen hat, an diesem Evensong mitzuwirken, selbst als wir vor nicht allzu langer Zeit deswegen den ersten Kontakt hatten, da dachten wir doch alle, dass neben dem Gedenken wie immer das Danken stehen wird, für Frieden und Demokratie, für Wohlstand und gute Beziehungen, und dazu die Sicherheit, dass es genauso auch weitergehen wird. 

„Es kann vor Nacht leicht anders werden.“ Und auf einmal gehört zum Gedenken nicht mehr die selbstverständliche Sicherheit einer Zukunft in Frieden und Wohlstand, sondern das Entsetzen über einen neuen Krieg in Europa und die bange Frage, ob wir am Beginn eines 3. Weltkrieges stehen, dessen Ausgang sich keiner ausmalen möchte.

Und während wir genervt bis verärgert im Supermarkt stehen, weil Mehl und Öl weggehamstert sind, summieren sich in anderen Gegenden der Welt Krieg und Klimawandel zur Aussicht auf Hungerkatastrophen mit Millionen Toten. 

Und Corona? Gestern wurden ja nun die neuen Bestimmungen öffentlich gemacht; endlich die langersehnten gesetzlichen Lockerungen. Allerdings hab zumindest ich niemanden jubeln hören. Angesichts der explodierenden Fallzahlen und vollgelaufenen Krankenhäuser hieß es durchgängig: Ich trage auch weiterhin Maske und halte Abstand. Freiheit – nein danke? 

Erst am Mittwoch wurde in meiner Heimatstadt Würzburg der Zerstörung der Stadt am Ende des 2. Weltkrieges und der über 3000 Toten gedacht. Ein Tag im März 1945, aus einer schönen, blühenden Stadt wird ein Grab am Main – das haben Hanau und Würzburg gemeinsam, und hier wie dort stehen wir erschüttert, verunsichert und ungläubig angesichts der Katastrophen unserer Gegenwart.

Im Johannes-Evangelium Kapitel 16 lesen wir die Worte Jesu:

20 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Ihr werdet weinen und klagen, aber die Welt wird sich freuen; ihr werdet traurig sein, doch eure Traurigkeit soll zur Freude werden. 21 Eine Frau, wenn sie ein Kind bekommt, so hat sie Schmerzen, denn ihre Stunde ist gekommen. Wenn sie aber das Kind geboren hat, denkt sie nicht mehr an die Angst um der Freude willen, dass ein Mensch zur Welt gekommen ist. 22 Auch ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen. 23 Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr den Vater um etwas bitten werdet in meinem Namen, wird er‘s euch geben. 24 Bisher habt ihr um nichts gebeten in meinem Namen. Bittet, so werdet ihr empfangen, auf dass eure Freude vollkommen sei. 26 Und ich sage euch nicht, dass ich den Vater für euch bitten werde; 27 denn er selbst, der Vater, hat euch lieb, weil ihr mich liebt und glaubt, dass ich von Gott ausgegangen bin. 33 Dies habe ich mit euch geredet, damit ihr in mir Frieden habt. In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden. 

Es ist ziemlich schonungslos, was Jesus sagt über das Leben von Christinnen und Christen in der Welt. Und gleichzeitig finde ich es ungeheuer tröstlich. Schonungslos, weil das Leid der Menschen, so wie er spricht, wohl unausweichlich zum Leben gehört. Was meint Gott der Herr seinen Geschöpfen zumuten zu dürfen: „Ihr werdet weinen und klagen, und die Welt wird sich freuen“?!

Aber genauso ist es. Unsere ganze Geschichte finden wir in diesen Worten wieder. Und nicht nur unsere. Die allermeisten hier werden die Begebenheiten kennen, aus denen die Nagelkreuz-Gemeinschaft gewachsen ist:

Schon im November 1940 wurde die mittelenglische Stadt Coventry im Rahmen der Operation Mondscheinsonate von der Deutschen Luftwaffe bombardiert, der Angriff, der die meisten Todesopfer in England forderte. So erfolgreich, dass der NS-Propagandaminister Goebbels den Begriff „Coventrieren“ für die Vernichtung einer Stadt aus der Luft erfand. Ihr werdet weinen und klagen und die Welt wird sich freuen... 

Zusammen mit weiten Teilen der Innenstadt – gut viereinhalbtausend Häusern – wurde auch die mittelalterliche St. Michaels-Cathedral in jener Nacht zerstört. Der Dompropst Richard Howard ging am nächsten Morgen in die Ruinen seiner Kathedrale, um die Schäden anzusehen. Und er fand zweierlei: zwei verkohlte Balken, die überkreuz im Schutt lagen. Ein Zeichen für ihn, denn genauso hat er sie zusammenbinden und als Altarkreuz in der Ruine aufstellen lassen. Und er fand drei der Zimmermanns-Nägel, mit denen die schwere Holzdecke der alten Kathedrale zusammengebaut war, und fügte auch sie zu einem Kreuz, eben dem Nagelkreuz, zusammen. Und schrieb an die Chorwand der Ruine die Worte, die auch Jesus am Kreuz gesprochen hat, „Vater vergib“.

Er hat sich keine Freunde damit gemacht, denn natürlich hätte es doch heißen müssen „vergib ihnen“, den bösen Deutschen nämlich.

Aber selbst angesichts des monströsen Bombenterrors war sich Howard bewusst, dass es vor Gott, unter dem Kreuz Christi, schlechterdings keinen Menschen gibt, der nicht für irgendetwas auf Vergebung angewiesen wäre: Sie alle haben gesündigt und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, wie es der Apostel Paulus formuliert.

Und diese Klarsicht und Demut haben es ermöglicht, dass die einst erbitterten Kriegsgegner sich im Zeichen des Nagelkreuzes wieder begegnen und annähern konnten, einander vergeben und aussöhnen. Christopher Cocksworth, der Bischof von Coventry, erzählt gerne von der Trauung seines Sohnes Sam in der Ruine der alten Kathedrale. Sam hat eine junge Deutsche geheiratet, Friederike. Zur Hochzeitsgemeinde gehörten zwei alte Damen, eine war die Großmutter von Sam, also die Mutter des Bischofs. Die andere war die Großmutter von Friederike. Ihre Väter haben im ersten Weltkrieg versucht sich gegenseitig umzubringen. Ihre Ehemänner haben im zweiten Weltkrieg versucht sich gegenseitig umzubringen. Und nun erklärten ihre Enkelkinder einander die Liebe und versprachen einander treu zu bleiben, auf Deutsch und auf Englisch, inmitten der Ruinen einer Kathedrale, die durch Hass und Konflikt zerstört wurde.

Die Feier danach fand im Bischofshaus statt. Deutsche und Briten aus fünf Generationen tanzten durch die Nacht, einschließlich der beiden Großmütter. Es hat hundert Jahre gebraucht, aber in dieser Nacht, so empfand es der Bischof, waren die Kriege nun endlich vorbei. Die Versöhnung ist angekommen, vollends und endgültig, in diesen beiden Familien. Und nun gibt es eine neue Generation in der Familie. Im vorvergangenen Oktober bekamen Sam und Friederike eine kleine Tochter. Eine deutsch-britische Tochter.

Schonungslos, haben wir vorhin festgestellt, und zugleich tröstlich. Da ist das ungeheure Leid, Tod, Angst, Schmerz, und da ist das, was aus alledem wachsen kann: Mut, Vergebung, Liebe, eine Zukunft. Ich habe die Welt überwunden, sagt Jesus. Christinnen und Christen und Nagelkreuzler erst recht glauben an einen Frieden in Christus, glauben an eine Welt, die gerecht ist, solidarisch und in der nationalistische, rassistische und sexistische Untaten und egoistisches Geplärre überwunden sind. Auf diese Welt warten sie, auf die freuen sie sich und dafür arbeiten und beten sie.

Das macht das Leid dieser Welt nicht einen Deut besser und es darf, gerade da, wo es menschengemacht ist, niemals verteidigt werden. Doch aus dem Wissen um eine andere Welt unter der Herrschaft eines liebenden himmlischen Vaters fließt zuerst die Zuversicht und dann die Kraft, sich für Gerechtigkeit und Frieden, für Vergebung und Versöhnung einzusetzen.

Das Nagelkreuz ist ein Symbol dafür, und ich finde, das Wappen Ihrer Kirche passt gut dazu: Last und Frucht; und beides verbindet sich mit dem Bild aus dem Evangelium: die Schmerzen einer Geburt und die Freude über das Kind.

Glaube, so sagt man, ist wie ein Vogel der singt, wenn die Nacht noch dunkel ist. Dann sind Christen und Christinnen und Nagelkreuzler zumal Menschen, die ihre Versöhnungsarbeit anbahnen, während Krieg und Pandemie noch toben. Ganz getrost, denn unser Herr hat die Welt überwunden. Im Namen Jesu. Amen.

- es gilt das gesprochene Wort! -