Predigttext: "Der Barmherzige Samariter" (Lukas 10, 25-37)
Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,
liebe Gäste im Tempel unseres Glaubens,
liebe Konsistoriale im Apostelamt unserer Kirche,
wenn wir uns heute an den 200ten Geburtstag von Louis Appia erinnern, dann im Wissen, dass er zwar Kind unserer Wallonisch-Niederländischen Kirche war, aber eigentlich viel zu kurz, um wirklich durch uns geprägt worden zu sein.
Sein Vater, Paul Joseph Appia, kam 1811 als zweiter Pfarrer an die Wallonische Kirche nach Hanau. Er stammte aus den Waldensertälern in Piemont und blieb acht Jahre hier. Zum Bedauern der Gemeinde wechselte er 1819 zur Frankfurter Französischen Gemeinde, die ja eigentlich unsere Mutterkirche ist und bis heute besteht.
Trotz des Wechsels blieb ein reger Kontakt bestehen: er wurde zu Gastpredigten und -vorträgen eingeladen. Unsere Annalen, soweit sie noch vorhanden sind, sagen nicht viel über das Wirken dieses Pfarrers. Und dies bedeutet vor allem, dass er nicht negativ aufgefallen ist.
Louis war das dritte von sechs Kindern. Getauft wurde er hier auf den Namen Louis Paul Amédée Appia. Ein Bruder sollte später in der Heimat des Vaters auch Pfarrer werden. So war wohl Kindheit und Jugend aller in einem Pfarrhaus für das weitere Leben prägend, besonders eben auch für Louis Appia.
Und so überrascht es vielleicht, dass er sich nach einem Berufsleben als Arzt mit über 70 Jahren noch die Theologie begeistern konnte. Appia wuchs multikulturell und –sprachlich auf: Sein Vater stammte aus Norditalien und gehörte zu den Waldensern, einer vorreformatorischen Bewegung. Zuhause und in der Gemeinde sprach Appia französisch, außerhalb dieser Kreise deutsch.
In der Frankfurter Gemeinde eröffnete sich Appia eine bürgerliche Welt: Kaufleute und Bankiers, Künstler und Wissenschaftler, auch Diplomaten zählten dazu. Nach dem Abitur ging Appia mit 18 Jahren kurze Zeit nach Genf und begann dann in Bonn und Heidelberg ein Medizinstudium, das er 1842 abschloss, um als Arzt dann wieder nach Frankfurt zurückzukehren.
Meine Lieben! Nicht nur damals war es sicherlich spannungsreich, zwischen Glaube und Medizin, zwischen christlichem und politischem Bürgertum seinen Lebensraum zu haben. In einer Zeit des politischen Umbruchs waren christliche Werte und Inhalte noch sehr präsent, aber der Einfluss der Kirche verlor immer mehr an Dominanz – auch damals schon.
Und so ist es bis heute geblieben. Wenn man eine Umfrage machen würde, welches denn wohl das bekannteste Gleichnis Jesu sei, dann würde neben dem Gleichnis vom verlorenen Sohn mit Sicherheit auch das Evangelium vom barmherzigen Samariter genannt werden.
Selbst jene, die mit der Kirche sozusagen nichts am Hut haben, kennen großteils diese Geschichte. „Ein barmherziger Samariter zu sein“, ist in die bildhafte Sprache des Alltags eingegangen. Es beschreibt einen gut handelnden Menschen, ja manches Mal sogar den Notfall- und Pannendienst auf den Straßen, wenn sich der Arbeiter-Samariter-Bund auf den Weg macht.
Dreimal kommt im heutigen Predigttext das Verb „sehen“ vor. Der Priester und der Levit „sahen“ den Überfallenen, aber sie gingen weiter. Als aber der Samariter kam, da „sah“ er und „es jammerte ihn“. Sehen ist also nicht gleich Sehen. Der eine sieht und nimmt nur nebenbei etwas zur Kenntnis, der andere sieht und erkennt seine Verantwortung, es geht ihm zu Herzen. Die beiden ersten Vorübergehenden hatten zweifellos ihren religiösen Grund, weiterzugehen, um nicht unrein zu werden, indem sie einen Verletzten berührten. Aber darf Glaube blind machen???
Jesus erzählt diese Geschichte als Antwort auf die Frage des Gesetzeslehrers, der im Zweifel ist, wer denn sein Nächster ist. Jesus sagt: Wer dein Nächster ist, das kannst du SEHEN. Derjenige, der dir begegnet – meist ungefragt und unangemeldet – der deine Hilfe braucht, dieser ist dein Nächster.
Der barmherzige Samariter sieht die Not, hat Mitleid und hilft tatkräftig. Insofern ist die Botschaft des Gleichnisses vom barmherzigen Samariter klar und einfach: Der wichtigste Mensch ist der, dem du JETZT begegnest. Der wichtigste Moment ist JETZT. Die wichtigste Tätigkeit ist die, in der du JETZT handeln kannst.
Geschwister im HERRN! Einen solchen „Jetzt-Moment“ gab es auch im Leben von Appia. Als politisch interessierter Mensch hatte er sich für Demokratie und nationale Erneuerung interessiert. In den Umbruchjahren Europas half er 1848, Verwundete während der Februarrevolution in Paris und der Märzrevolution in Frankfurt zu versorgen. Dies hatte sein Interesse für die Militärmedizin und die Versorgung von Verwundeten geweckt.
So ließ er sich 1849 als Militärarzt in Genf nieder. Dort heiratete er 1853 Anne Caroline Lassere und hatte mit ihr zwei Söhne und zwei Töchter. Briefe seines Bruders Georg, der Pfarrer in den Waldensertälern in Italien geworden war, ließen Appia 1859 im italienischen Befreiungskrieg ärztliche Hilfe leisten. Und hier lernte er den Genfer Kaufmann Henry Dunant kennen und zusammen mit dem Rechtsanwalt Gustav Moynier, dem General Wilhelm Dufour und einem Arzt namens Theodor Maunoir gründeten sie im Frühjahr 1863 das „Fünfer-Komitee“, den Vorläufer des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz.
Appia setzte sich bei der ersten Genfer Konferenz dafür ein, dass Mediziner und Pflegepersonal durch ein weißes Armband für alle Kriegsbeteiligten kenntlich gemacht wurden. Dufour ergänzte später diesen Vorschlag um ein Rotes Kreuz auf der Binde. So wurde das Rote Kreuz auf weißem Grund, die Umkehrung der Schweizer Flagge, zum Symbol des Komitees. Und so war Appia wohl auch der erste, der dieses Abzeichen trug: Im deutsch-dänischen Krieg von 1864 war Appia als Beobachter des Komitees auf Seiten von Preußen tätig. Dort leistete er praktische ärztliche Hilfe. Viele Einsätze folgten: 1866 im italienischen Befreiungskrieg, im deutsch-französischen Krieg 1870/71.
Links neben Pfarrer Telder: Louis Appia III., ein Nachfahre von Louis Appia; rechts neben dem Pfarrer: Roger Durand, Präsident der Appia-Gesellschaft
Im Oktober 1872 half er in Ägypten bei der Gründung der ersten nichteuropäischen nationalen Rotkreuz-Gesellschaft. Bereits seit 1868 war im Osmanischen Reich das Rote Kreuz durch den Roten Halbmond ersetzt worden, um auch in muslimisch geprägten Ländern aktiv sein zu können. Vielleicht die Geburtsstunde einer ersten interreligiösen Bewegung.
Meine Lieben! Schauen wir einmal auf den heutigen Predigttext, denn das Gleichnis hat auch noch eine andere Dimension: Da ist dieser Mann, der da unterwegs ist und überfallen wird, in dem kann ich mich wiederfinden! Ja, dieser Mann – der bin ich selbst! Genau das will Christus hier: dass der Hörer des Gleichnisses sich mit diesem Mann, der da unter die Räuber fällt, identifiziert!
Die drei Personen, also der Priester, der Levit, schließlich der Samaritaner, sie zeigen durch ihr praktisches Verhalten: nicht der, von dem ich es vielleicht am ehesten erwarte, weil er mein Verwandter oder mein Verbündeter ist, sondern der, der mir helfend zur Seite steht, der ist es, der sich mir als mein Nächster erweist!
Der Gesetzeslehrer zu Beginn der heutigen Perikope wollte übrigens wissen: Wie komme ich in den Himmel? Und da zwingt Jesus ihn, sich in die Rolle des niedergeschlagenen und beraubten Opfers zu versetzen, der da im Dreck liegt und dem die eigenen Mitmenschen nicht helfen!
Was könnte das denn anderes bedeuten, als dass Jesus sagen will: Du Mensch, der du überlegst, was du selber tun kannst, um in den Himmel zu kommen, du musst dir erst einmal bewusst sein, wer du eigentlich selbst bist!
Du musst dir bewusst sein, dass du selber geschlagen und beraubt oftmals am Boden liegst. Durch eigenes Verschulden manches Mal, oder durch das Handeln anderer, oder, um es theologisch zu sagen: durch die Macht des Bösen, die dir alles genommen hat, was dir wichtig und heilig war!
Und wenn der Mensch das erkannt hat, wer er ist und was er hat, dann dankt er hoffentlich für den Menschen, dem er bisher aus dem Weg gegangen und für den er nicht viel übrig gehabt hat, weil er aus Samarien kommt. Denn er rettet sein Leben, er hebt ihn auf sein Reittier, er bringt ihn in die Herberge, wo man für ihn sorgt und er sich erholen kann.
Christus spricht an dieser Stelle natürlich auch von sich selber. Er lindert unsere Lebensschmerzen und nimmt uns mit in die Herberge, wo wir ausruhen können: eigentlich ein ansprechendes Bild für die Kirche und den Glauben, der uns zu uns selbst und zum lebendigen Gott kommen lässt.
Ein Bild, welches aber auch für das Engagement von Hilfsorganisationen, wie eben dem Roten Kreuz, angewendet werden kann.
Wenn wir nämlich im Fernsehen irgendwo auf der Welt Rotkreuz-Mitarbeiter im Einsatz sehen, dann bedeutet das meistens: Da ist vorher etwas schief gegangen: Regierung und Behörden haben es nicht geschafft, ihre Bürger vor einer Naturkatastrophe, einer Epidemie oder einer Hungersnot zu beschützen. Und/Oder die Weltpolitik und internationale Diplomatie haben es nicht vermocht, einen Konflikt zu verhindern. Wenn das nämlich alles nicht gelingt, dann werden die humanitären Helfer als letzte Stafette losgeschickt.
Appia engagierte sich auf vielen Konferenzen für die Prinzipien des Roten Kreuzes und verhalf ihnen zum Durchbruch. Er trat dafür ein, dass über den Einsatz im Krieg hinaus bei Naturkatastrophen und Epidemien Hilfe geleistet werden sollte. In Kriegszeiten erwartete er vom Roten Kreuz auch Hilfe bei der Versorgung von Flüchtlingen und Gefangenen. Und bis heute hat sich an diesen Prinzipien nichts geändert.
Es ist überliefert, dass Appia die letzten Wochen seines Lebens größtenteils in seiner Genfer Wohnung verbrachte und dabei Besuchern seine Rotkreuz-Armbinde aus dem Jahr 1864 zeigte. Am 1. März 1898 starb er. Die Wohnung befand sich übrigens in der Rue Calvin in Genf und so hat sich vielleicht auf wundersame Weise ein Kreis des Lebens geschlossen. Aus einer calvinistischen Gemeinde kommend, schloss er die Augen in einer Straße, die nach diesem Reformator benannt wurde, mit knapp 80 Jahren.
Carissimi! Das Gebot der Nächstenliebe ist nicht immer leicht in die Tat umzusetzen. Nicht jeder von uns engagiert sich im Roten Kreuz, bei den Johannitern oder den Maltesern, der Diakonie oder Caritas oder vielen anderen Hilfsorganisationen. Ebenso wichtig wie unsere helfende Tat ist auch unsere positive Gesinnung unseren Mitmenschen gegenüber.
Wir können nicht allen Notleidenden tatkräftig helfen, aber wir können ihnen aus innerer Gesinnung positiv gesonnen sei. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter lädt uns in dieser Dimension des Textes ein, immer wieder zu versuchen, unsere begrenzte Liebesfähigkeit zu öffnen und zu weiten. „Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen!“ Amen.
Pfr. Torben W. Telder, vdm
-es gilt das gesprochene Wort-