Predigttext aus Lukas 19, 28-40
Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,
liebe Gäste im Tempel unseres Glaubens,
liebe Konsistoriale im Apostelamt unserer Kirche,
nur damit wir es nicht vergessen (noch einmal): 73 Jahre ist es her, dass der nur 20 Minuten dauernde Nachtangriff der Royal Air Force, die jahrhundertealte Innenstadt Hanaus in eine Trümmerwüste verwandelte und über 2000 Menschen das Leben kostete. Bis heute prägen diese wenigen Minuten das Gebäude der Wallonisch-Niederländischen Gemeinde, zeigt es doch noch Wunden und Risse eines so sinnlosen Krieges.
Zeit unseres Lebens, ob nun in jungen oder in älteren Jahren, ob wir überlebt haben oder später geboren wurden, spüren wir die Wunden, die diese Nacht, wie auch der ganze Krieg, in unsere Stadt und in unser Leben geschlagen haben. Bis heute spüren und wissen wir, dass Menschen in unserem Leben fehlen. Seien es unsere Lieben, von denen wir hofften, sie gesund und unversehrt wiederzusehen, oder seien es fremde Menschen, Väter, Mütter und Geschwister, die wir nie kennenlernen durften. Um sie trauern wir bis heute.
Natürlich geht die Zeit weder an uns noch an unseren Traditionen spurlos vorbei. Seit 73 Jahren in immer wiederkehrenden Ritualen dieses Bombardements zu gedenken, bringt auch die Notwendigkeit der Veränderung mit sich. Denn mit den Jahren trat eine Seite immer stärker zutage, die von Anfang an doch auch dazugehört hat. Unsere ganz persönliche Trauer und Erinnerungen klagen immer jeden Krieg und alle Gewalt in der Welt an.
Bei der Vorbereitung des heutigen Abends ließ ich meinen Blick in meinem Arbeitszimmer schweifen nach der Suche, etwas Anschauliches zu entdecken. Und tatsächlich blieb mein Blick auf diesem Stück Erz kleben.
Nein, es ist kein Granatsplitter und es hat auch nichts mit der Bombennacht oder dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Es ist älter, aber es erinnert uns bis heute an Krieg und Zerstörung, das Stück Glockenerz aus dem Ersten Weltkrieg. Als man vor 100 Jahren, zur Herstellung von Kriegsmaterial, unsere Glocken von unserem mächtigen Turm holte, wurden sie noch vor Ort zertrümmert. Und ein damals kleiner Junge steckte sich dieses Teil in die Tasche, um sich später daran zu erinnern.
Meine Lieben! Der heutige Predigttext passt dazu. Nicht, weil er uns bereits auf Ostern einstimmt und die Geschichte von Palmsonntag erzählt, die wir kommenden Sonntag nochmals hören werden, sondern weil er uns das positive Bild eines Heilsbringers vor Augen führt, nach dem sich die Zeit wenden und Frieden auf Erden herrschen sollte. Ein frommer Wunsch, ich weiß. Aber dafür steht eben Jesus Christus, der in Jerusalem einzog.
Ähnliche Heilserwartungen hatten die Menschen damals, als der braune Terror an die Macht kam. Himmelhoch jauchzend war ein Volk blind für das, was geschah. Nicht alle – aber doch quer durch alle Schichten und Gruppierungen. Zum Gruß hob man die Hand und wünschte sich „Heil“, und doch beschwor man immer mehr das Unheil herauf.
Dieses Unheil entfachte einen Feuersturm über fast ganz Europa – Gott sei Dank, dass wir heute in Frieden leben. Und irgendwann kehrte dieser Feuersturm auf Deutschland zurück. Das Tausendjährige Reich hinterließ nach nur wenigen Jahren eine Trümmerwüste aus Schutt und Asche. Auch hier kann man auf der Wortebene eine Parallele zum heutigen Predigttext ziehen, wenn er mit den Worten schließt: „Jesus antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“
Damals: Jesu Jünger hatten Lärm gemacht. Sie hatten laut gesungen und gejubelt, als Jesus in Jerusalem einzog. Sie hatten ihn als den Messias und als ihren König gefeiert.
Einigen Pharisäern war das unerträglich. Sie forderten Jesus auf, die Jünger zum Schweigen zu bringen. Aber Jesus antwortete ihnen: „Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“
Von Gott muss geredet werden – gerade auch in Unrechtsregimen. Wenn die Menschen es nicht tun, dann tun es eben die Steine. Für den Allmächtigen wäre es ein Leichtes, Steinen menschliche Stimmen zu geben. Und selbst wenn sie akustisch nicht zu hören sind, könnten sie dennoch reden.
Und sie tun es. Auch heute reden Steine, loben Gott, bezeugen seinen Namen und mahnen die Menschen. Zum Beispiel die Steine, aus denen unsere Kirchen gebaut sind. Zum Beispiel auch die Steine unseres Tempel des Glaubens, dessen Zerstörung und teilweisem Wiederaufbau wir auch an diesem Tag gedenken.
Die Steine unserer Kirche loben Gott. Das ist eine große Freude und ein großer Trost: Auch wenn der Gesang unserer Gemeinde zuweilen schwach klingt, so schreien die Steine doch immer noch so kräftig wie vor 400 Jahren. Wie schön, dass es dieses prächtige steinerne Gotteslob in Hanau gibt, an gut sichtbarer Stelle.
Und wie gut, dass unsere Vorfahren damals, beim Bau der Doppelkirche, nicht knauserig waren. Ob wir wohl heute noch in der Lage wären, so großzügig zu Gottes Ehre zu bauen? Nach der Zerbombung und dem Kriegsende war man ernüchtert – von der Politik, aber eben auch vom Glauben. So baute man nur diesen niederländischen Teil wieder auf.
So schreien auch die Steine dieses Kirchenteils: Sie sagen uns auf ihre Weise: Hebe deine Augen empor zu Gott! Richte deine Gedanken und Sinne jetzt auf ihn! Und vergiss nicht, dass du klein und gering bist vor ihm! Bleib demütig!
Die Steine bezeugen, dass wir bei Gott sicher und geborgen sind, bei allem Krieg und Terror in der Welt, bei allem Leid und Elend, das uns persönlich betreffen mag. Wir wissen: Durch Jesus sind wir erlöst, und wir finden durch ihn Zuflucht bei Gott in allen Problemen unseres Lebens.
Hoch ragt das Dach empor, fast wie ein Kirchturm, aber eben doch kein Kirchturm – auf diesen hat man verzichtet beim Wiederaufbau. Auch das ist ein steinernes Bekenntnis. Nicht entfliehen in fremde Höhen, sondern geerdet sein auf das Fundament, welches ist Christus. Dies ist besonders nötig in einer Zeit, wo viele dieses Bekenntnis verwässern, verdrehen, ablehnen oder überhaupt nicht mehr kennen.
Gemeinde Gottes! Ich habe die wallonische Kirchenruine nicht vergessen, in die wir gleich zum Gedenken einziehen werden. Bis heute schreien die Außenmauern der Ruine und das Mahnmal das damalige Unrecht hinein in unsere Stadt. Vielleicht werden wir sie eines Tages wieder aufbauen, dann aber auch als eine steinerne Predigt: als Sinnbild dafür, dass auch unsere anfälligen und leidgeplagten Körper eines Tages auferstehen werden zu herrlichem neuen Leben durch den Herrn Jesus Christus.
Und dieses neue Leben bricht überall dort an, wo Menschen sich zur Versöhnung die Hände reichen. Wo aus Feinden Freunde werden. Wo alte Vorurteile überwunden und neue Einsichten gewonnen werden können. Daran erinnert mich, davon predigt dieses Stück Glockenerz, unsere halb in Ruinen belassene Wallonisch-Niederländische Kirche und viele Orte in Hanau und anderswo.
Unser stilles und stetes Gedenken an die Opfer dieser einen Nacht ist ein deutliches Eintreten für den Frieden Tag für Tag. Es ist auch ein Gebet für den Frieden, den wir in Deutschland — Gott sei es gedankt — so lange schon haben dürfen, den unsere Welt aber nicht kennt.
Ein Blick in die Zeitungen und die Nachrichten macht uns deutlich, dass militärische Gewalt und Terror noch immer herrschen und Probleme lösen sollen. Ein Blick ins Fernsehen stellt uns deutlich vor Augen, dass Terror und Krieg die Spirale der Gewalt vorantreiben.
Deshalb tut es not, dass wir später in der Kirchenruine die Versöhnungslitanei der durch deutsche Bomber zerstörten Kathedrale in Coventry beten und in die Bitte „Vater vergib“ einstimmen, die dort in die Steine der Stirnwand eingemeißelt sind.
So gedenken wir der Toten von damals. Aller Menschen zu gedenken bedeutet auch, verantwortungsvoll zu bedenken, was ihrem Leben jäh ein Ende setzte. Den Opfern der Bombennacht von damals und der Kriege und des Terrors der Gegenwart wollen wir eine Stimme geben, die nicht stille wird und um Frieden wirbt.
Und dass der Segen Gottes, der so weit sich über uns ausbreitet, wie der Himmel ist, verstockte Herzen öffne und die Menschen einander die Hände reichen lässt – mit den Worten: „Nie wieder!“ „Und antwortete und sprach: Ich sage euch: Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien.“ – daran glaube ich, davon predige ich und bezeuge es im Namen Jesu Christi. AMEN!
Torben W. Telder, vdm
Es gilt das gesprochene Wort