Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,
liebe Gäste im Tempel unseres Glaubens,
werte Konsistoriale vom Kollegium des
Kleinen und Großen Konsistoriums,
nun ist es also 10 Jahre her, dass ich den Arbeitsvertag unterschrieben habe und bei Ihnen Pfarrer bin. Eigentlich ist für mich das 10-jährige ja bereits am 28. Januar gewesen, als die Wahl auf mich fiel. Dieser „Gedenktag der Bekehrung und Berufung des Apostel Paulus“ ist ja auch erst einmal vergleichbarer als der heutige Palmsonntag – aber vielleicht auch nur auf den ersten Blick.
Ich habe dieser Tage für die Vorbereitung der heutigen Predigt meine Antrittspredigt aus dem Regal geholt und mich gerne daran erinnert, was ich damals gesagt habe. Eigentlich hätte ich die Predigt auch 10 Jahre später wieder so halten können – und das werde ich nun auch in Teilen tun, allerdings mit der Weisheit von 10 Jahren Pfarrersein in unserer speziellen und besonderen Kirche als 69. Nachfolger seit Gemeindegründung.
Im Predigttext wird Jeremia berufen (der Palmsonntag ist die Ouvertüre zum Heilsgeschehen am Kreuz und Ostern): Es braucht besondere Augenblicke und Momente, in denen Gott uns nahe kommt und uns auf die Spur setzt, die ER für uns vorgesehen hat. Jeder von uns kann eine solche Spur Gottes in seinem Leben entdecken.
Es ist eine Spur, die durch Höhen und Tiefen geht, Enttäuschungen aushalten muss, aber immer wieder bereit für einen Neuanfang ist. Gottes Geschichte mit uns Menschen lässt sich Zeit – vielleicht sind wir manches Mal zu ungeduldig mit Gott. Das erfuhren immer wieder die Großen der biblischen Überlieferung und auch wir können dies im Leben erfahren.
Während meiner 10 Jahre habe ich 101 Menschen zu Grabe getragen und das besonders Wertvolle daran sind die Gespräche, in denen wir die Lebensspuren und -linien zusammengetragen haben. Es ist kein Geheimnis, dass Beerdigungen für mich immer etwas Besonderes sind. Diese Spuren dann in den Kontext Gottes zu setzen, ist manches Mal nicht einfach. Und doch ist Gott der Lenker unseres Lebens und eben auch Sterbens.
Im heutigen Predigttext kann man etwas Anstoß nehmen daran, wenn es heißt: „Ich sonderte dich aus, ehe du geboren wurdest (V.5)“. Auf den ersten Blick erschrecke ich immer wieder vor diesem Wort: Aussondern. Wer möchte schon gerne aus der Masse ausgesondert, ins Abseits gedrängt werden? Wer möchte schon derjenige sein, der nirgends dazu gehört und ein Einzelgänger wird?
Ich habe in den letzten 10 Jahren gemerkt, dass der Pfarrberuf auch einsam macht, vor allem mit seinen Gedanken. Ich bat bei meinem Antritt um Zeit, eine Person des öffentlichen Lebens zu werden und denke, dass ich mich damit immer noch nicht so wohl fühle, wenn man im Zentrum der Aufmerksamkeit und mancher üblen Nachrede steht.
Aber wieder einmal habe ich das Wort „aussondern“ mit „aussortieren“ verwechselt. Ich erinnere an eine andere Lesart: Gott hat mit jedem einzelnen Menschen von uns, die wir uns heute hier versammelt haben, seinen ganz besonderen Weg, seine ganz besondere Geschichte. Es ist ein Geschenk, wenn wir wissen: Ich bin etwas Besonderes, ein Original. Und das habe ich, besonders bei den 59 Taufen, den Eltern und meinen bisher 73 Konfirmanden gesagt und mit auf den Weg gegeben.
Und dann lese ich die Verse, die ich auch in meiner Bewerbung zitiert habe: „Ich aber sprach: Ach, HERR, ich tauge nicht zu predigen; denn ich bin zu jung. 7 Der HERR sprach aber zu mir: Sage nicht: »Ich bin zu jung«, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende, und predigen alles, was ich dir gebiete. 8 Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir und will dich erretten, spricht der HERR“ (V.6-8).
Ja, ich war damals der jüngste Bewerber von allen und sicherlich hatten manche auch geteilte Gefühle bei ihrer Entscheidung, einen Menschen am Anfang seines Berufslebens in das Amt ihres Gemeindepfarrers zu wählen. Mit Jeremia eben: „Ich bin doch zu jung!“.
Wie sieht das 10 Jahre später aus? Manchmal merke ich natürlich, dass auch ich in die Jahre gekommen bin, aber viel öfters merke ich, dass mir noch Erfahrungen und Wissen fehlen, die mir sicherlich im Laufe meines weiteren Lebens noch zuteil werden.
Wann könnte man wohl jemals von sich als Pfarrer behaupten: „Dafür bin ich jetzt reif, dafür reicht meine Glaubens- und Lebenserfahrung jetzt aus für allemal.“ Nein, wie wahrscheinlich für viele andere Berufe auch, bleibt das Leben doch immer eine täglich neue Herausforderung, verbunden mit erheblichen Hürden, wenn es darum geht, mit jemandem nicht nur über die Welt, sondern auch über Gott ins Gespräch zu kommen.
Und das Tröstliche ist doch: Gott kennt mich besser, als ich mich selbst kenne. Deshalb stellt er uns gelegentlich auch vor Aufgaben und Herausforderungen, von denen wir uns vielleicht grenzenlos überfordert fühlen. Und gerade dann, wenn wir Menschen vor scheinbar viel zu großen Aufgaben stehen, kann uns der Zuspruch Gottes an Jeremia ein Trost sein: „Fürchte dich nicht vor ihnen; denn ich bin bei dir!“ (V.8)
Wenn wir Gott vertrauen, ihm vieles zutrauen und versuchen herauszufinden, was Gott mit uns vorhat, dann geht es um unseren Lebensweg. Aber das Land, das vor uns liegt, besteht nicht nur aus Sonnenschein. Vieles wird ernst sein oder werden. Aber die Hauptsache dabei wird sein, dass ein jeder seinen eigenen Weg geht, authentisch, ehrlich und glaubwürdig. So gehen wir auch als Wallonisch-Niederländische Kirche durch die Wirren der Zeit. Wir sind stolz auf unser Erbe, das wir selbst erhalten wollen.
Wohl die schwierigste Aufgabe in den letzten 10 Jahren war die Loslösung von der reformierten Landeskirche, weil das kurze Experiment eben keinen Segen brachte. Mancher unkte, dass uns das zum Nachteil gedeihen würde. Ich denke, 168 Eintritte in den letzten 10 Jahren sprechen eine eindeutige Sprache – und das haben wir gemeinsam erreicht. Ja: Ich lebe einen Traum von Kirche und bin dankbar, dass so viele mit mir gemeinsam träumen.
Jeremia bekommt bei seiner Berufung mit auf den Weg gegeben: „Siehe, ich setze dich heute über Völker und Königreiche, dass du ausreißen und einreißen, zerstören und verderben sollst und bauen und pflanzen.“ Wer hätte sich vor 10 Jahren vorstellen können, welche Dynamik sich entwickeln und dadurch das Angesicht der Kirche auch verändern würde. Eine neue Orgel und ein neues Gemeindezentrum waren ja nur die großen Dinge, viele Ideen brauchten länger, einige haben wir auch gleich wieder „in die Tonne gehauen“.
Bei manchem Vorhaben waren wir selbst vom Erfolg überrascht. Segen erfuhren wir sehr oft im Kleinen und im Großen und auch aus Rückschlägen konnten wir meistens etwas Positives schöpfen. Und wenn ich „WIR“ sage, so meine ich damit natürlich das ganze Team: meine drei Frauen im Büro, Kantor, Küster und die vielen helfenden Hände im Hintergrund.
Und „WIR“ sind natürlich auch die Konsistorialen, die nicht immer so nett lächeln wie heute, sondern manches Mal auch kritisch ins Gespräch kommen – wie es ja auch sein soll.
Vor allem aber ist eine Kirche der Ort, um Gottesdienste zu feiern. Wir sind keine Agentur für Bespaßung und Beschäftigungstherapie. Der Pulsschlag einer Gemeinde ist ihr geistliches Angebot. Ich denke, viele konnten es nicht einordnen, als ich bei meinem Antritt sagte, dass mich auch viele Konfessionen in meiner Frömmigkeit beeinflusst haben.
Mir liegt an der konfessionellen Vielfalt mit ihrem reichen Erbe und ein klein wenig davon durfte ich auch hierher bringen: Taizé-Abendgottesdienste und Evensongs, Gottesdienste unterwegs oder zu speziellen Anlässen.
Manches Mal kommt dann die Frage auf: Ist das denn überhaupt reformiert? Ich bat am Anfang, mir Zeit zu lassen, mich in die reformierte Tradition und in unsere Geschichte einzuarbeiten. Letzteres habe ich ziemlich gründlich gemacht – es ist aber auch eine spannende Geschichte der Bewahrung und Vorsehung.
Und um es mit einem meiner langjährigen Vorgänger, Pfarrer Pribnow seligen Angedenkens, zu sagen: „Die wahre und bleibende Bedeutung der reformierten Kirchen für die Christenheit liegt in der Einsicht und dem Impuls: Nicht der geweihte Priester und nicht der beamtete Prediger bauen das Reich des HERRN, die Glaubenden bauen es alle miteinander als lebendige Steine. [...] und diese lebendigen Steine geben auch dem steinernen Gotteshaus warmes Leben.“
„Sage nicht: Ich bin zu jung, sondern du sollst gehen, wohin ich dich sende und predigen alles, was ich dir gebiete. Fürchte dich nicht vor ihnen, denn ich bin bei dir“ (V.7). Einer der Höhepunkte meines geistlichen Lebens war wohl meine Ordination in dieser Kirche, die erst nächstes Jahr zehn Jahre her sein wird. Vor diesen Stufen wurde ich eingesegnet zum Ordinationsvers: „Wenn der HERR nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen. Wenn der HERR nicht die Stadt behütet, so wacht der Wächter umsonst“ (Psalm 127,1).
Wieder so ein Bau-Vers, nicht wahr!? Vielleicht sollten die nächsten 10 Jahre mehr dem geistlichen Aufbau unserer Kirche dienen. Wenn wir Gott und seinem Wort immer wieder die zentrale Rolle in unserem Tun und Lassen zubilligen, wenn wir versuchen, uns seinem Geist zu öffnen, dann wird diese Kirche weiterhin Bestand haben. Es war der Glaube, der zu dieser Gründung führte, und es muss der Glaube bleiben, der die Seele dieser Kirche ausmacht.
Das heißt nun nicht, dass wir immer alles neu und anders machen müssen, dass nichts beim Alten bleiben darf. Und doch dann das Gegenteil: Veränderungen wagen, mal langsam, mal mit einem schmerzlichen Schnitt. Ich weiß, dass viele ein eigenes Bild vom Pfarrer haben, davon wie und was er arbeiten sollte. Ich weiß, dass ich einiges anders mache und Erwartungen immer wieder enttäusche, das bleibt leider nicht aus. Aber lassen Sie uns im Gespräch bleiben.
Carissimi! Noch so vieles liegt vor uns, aber gemeinsam sind und bleiben wir auf dem Weg. Was wird das Morgen bringen? Haben wir Angst vor Veränderungen? Der Zuspruch Gottes an Jeremia gilt für uns alle, ob jung oder alt. Gott wagt es mit uns und vertraut uns. Seine Zusage gilt, dass er mit jedem von uns seinen Plan hat. Lassen wir uns darauf ein!
Darauf vertraue ich und bezeuge es im Namen Jesu Christi. AMEN!
Pfarrer Torben W. Telder, vdm
– Es gilt das gesprochene Wort –