zum Reformationsgedenken 2019 über Galater 5, 1-6

Liebe Schwestern und Brüder im HERRN,
liebe Gäste im Tempel unseres Glaubens,
werte Konsistoriale im Apostelamt unserer Kirche,

der Monat Oktober bietet in Deutschland die Gelegenheit, sich der Reformation zu erinnern. Wir tun dies wegen des 31. Oktobers, an dem die Kirche des Thesenanschlags Martin Luthers gedenkt. Dies hatte weitreichende Folgen, wie wir wissen, und beeinflusste auch die zweite Generation von Reformatoren, so Johannes Calvin. 

Schon immer war und ist Calvin das Objekt verschiedener Gerüchte. Zum Beispiel habe er in Genf von der Kanzel herab einen totalen Überwachungsstaat gefordert. Und auch die Exzesse des Kapitalismus seien ein direktes Resultat seiner Predigten zu St. Pierre. Wirklich?

Die Reformation vor fünf Jahrhunderten können wir mit dem zeitlichen Abstand als Befreiungsschlag aus einem Zeitalter der Angst verstehen. Die Menschen des Mittelalters fürchteten sich vor Fegefeuer und ewiger Hölle. Die Macht der Kirche war unbegrenzt. Nach ihrem Ermessen wurden (und werden) Sünden und gute Werke gegeneinander abgewogen. Der Verkauf von Ablassbriefen ist ihr lukratives Geschäft. Gnade gibt es nicht umsonst und ohne Mühe.

Da machte der Augustinermönch Martin Luther die befreiende Erfahrung, dass Gottes Gnade bedingungslos, gratis, geschenkt sei. Eine Generation später dann trat Calvin auf den Plan. Wir haben Bilder von ihm im Kopf. Aber wer sich Calvin zum Beispiel als einen dürren Asketen vorstellt, der irrt. Ganz im Gegenteil, denn geschickt treibt er fromme Verzichtserklärungen ad absurdum: „Wenn einer bei einigermaßen wohlschmeckendem Wein bereits Bedenken hat, so wird er bald nicht einmal gemeinen Krätzer mit gutem Frieden seines Gewissens trinken können, und am Ende wird er nicht einmal mehr wagen, Wasser anzurühren.“

Am Ende, befürchtet der Reformator in einer seiner Schriften nicht ohne Ironie, komme es soweit, dass man „es für Sünde hält, über einen quer im Wege liegenden Grashalm zu gehen.“ Was leicht wie ein Grashalm daherkommt, hat grundlegende Bedeutung für Calvin. Er wußte um die allgegenwärtige Gefahr, in alte Zwänge zurückzufallen: „Sobald sich unser Gewissen einmal in diese Fesseln verstrickt hat, kommt es in ein langes und auswegloses Labyrinth hinein, aus dem sich nachher so leicht kein Ausgang mehr finden lässt.“ 

Meine Lieben! Wir würden lügen, wenn wir behaupteten, dass Calvin oder Calvinismus wohlklingen in fremden Ohren. Es klingt mehr nach Spaßverderber und Nüchternheit. Vielleicht zurecht, vielleicht muss man aber mehr auf die Umstände schauen, in denen Calvin damals lebte und seine Theologie entwickelte. Solche Zeiten von damals sind uns heute fremd geworden in einer säkularen Welt. Wir stecken nicht mehr fest in einem frommen Labyrinth aus Riten, Vorschriften und Drohungen. 

Und so fällt es sicherlich auch schwer, Antworten auf religiöse Fragen von vor 5 Jahrhunderten ins Heute zu transportieren. Allein wenn ich in manchen Gesprächen die Lehre der „Doppelten Prädestination“ erwähne, stoße ich schon auf viel Unverständnis. Dabei klingt es für mich nach einem gnädigen Gott, der einen unverdient in den Himmel, aber eben auch unverschuldet zur Hölle fahren lässt, wo Christus uns aber nicht vergessen wird.

Nicht wenige Zeitgenossen halten diese Lehre für Blödsinn und ich würde sogar zustimmen, dass dies nicht der Kern unseres Glaubens ist. Dabei unterschied sich Calvins Predigt über die Prädestination gar nicht so sehr von der anderer Theologen seiner Zeit, die zumindest mit Höllenqualen und Fegefeuerphantasien auch die Angst der Gläubigen schürten. Was ist aber dann der Kern der reformierten Theologie? 

Zum einen die Macht Gottes. Reformierte Theologen brachten wieder neu zur Geltung, dass Gott es ist, der die Macht in Händen hält und also auch über die Welt herrscht. Wenn dem so  ist, so ist es konsequent, dass alles menschliche Tun immer nur Stückwerk bleibt und dass es vor Gott Bestand haben muss. 

Wenn Gott Anfang und Ende ist, wie es die Bibel lehrt, so geht es um mehr als um meine Befindlichkeit und mein Können. 

Es geht darum, mich so gut es geht in der Welt zurechtzufinden und einzubringen. Das mag erfolgreich, aber manches Mal auch zum Scheitern verdammt sein. Im Wissen, dass Gott aber überall die Macht in Händen hält, kann ich Mensch selbst nichts tun, um aus diesen Händen zu fallen: ich kann mir diese Zuwendung nicht verdienen und ich kann sie nicht verlieren, wie es Calvin lehrt. 

Und was für den einzelnen Menschen gilt, das gilt auch für uns als reformierte Kirche: Welche Stellung hat Gott bei uns? Ist er der HERR seiner Kirche oder schönes Beiwerk? Nennen wir uns zurecht noch eine reformierte Kirche oder sind wir im Laufe der Jahrhunderte mehr zu einem Verein verkommen? 

Meine Lieben! Das Zweite, was für die Reformation wichtig ist, ist der Vorrang der Bibel. Man könnte es auch die biblische Autorität nennen. Als reformierte Kirche bezeugen unsere Bekenntnisschriften, dass die letzte Autorität in unseren Entscheidungen der Bibel alleine zusteht. 

Natürlich wissen wir, dass wir die Heiligen Schriften nicht blind und wortwörtlich verstehen können. Dafür ist uns der Heilige Geist gegeben, um durch seine „Brille“ die Inhalte und Wahrheit der alten Texte zu begreifen. Und das ist mir ganz wichtig: Reformierte Christen sind keine Fundamentalisten. 

Wir sind aufgeklärt genug, zu erkennen, dass im Laufe der Jahrhunderte sich manche Ungenauigkeit in den biblischen Text eingeschlichen haben kann. Dass es Menschen zu allen Zeiten waren, die Texte auch veränderten, wenn es in ihre Theologie passte. Der Heilige Geist öffnet die menschlichen Herzen, damit wir Gott selbst reden hören durch sein Wort in unserer Zeit. 

Deshalb macht es mich auch nicht nervös, wenn manche biblische Stelle  anderen widerspricht. Und ich verliere auch nicht meinen Glauben, nur weil manche Geschichte einfach unglaublich ist. 

Die gesamte biblische Botschaft ist das Entscheidende, ohne sich in einzelne Verse und Aussagen zu verlieren.  Ein Kollege von mir hat es einmal so ausgedrückt: „Die Bibel ist wie ein vertrauenswürdiger Freund, auf dessen Eindrücke und Interpretationen eines wichtigen Ereignisses oder einer wichtigen Erfahrung wir vertrauen können.“

Geschwister im Herrn! Ein dritter Aspekt soll heute Morgen Gottes Gnade gewidmet sein. Gnade hört sich schon ziemlich verstaubt an, kaum einer benutzt dieses Wort noch in seiner Alltagssprache. Dabei sagt Gnade aus, dass uns Gott mehr liebt, als wir ermessen, verstehen oder wertschätzen können. Gottes Liebe ist größer als menschliche, weiter, höher und tiefer, als wir es uns vorstellen können. Und diese Liebe gilt jedem Menschen, ganz gleich, wer er ist oder wo er lebt. 

Diese Liebe kann uns Menschen aber auch zur Herausforderung werden. Denn sie gilt garantiert auch all jenen Menschen, die wir selbst vielleicht nicht mögen. Und noch viel wichtiger: sie gilt auch den Menschen, die sich selbst nicht lieben. Das Wort Gnade mag antiquiert sein, aber die Liebe der Gnade ist brandaktuell. An ihr zeigt sich unsere eigene Einstellung zu unseren Mitmenschen, zu unserer Welt und ja: auch zu uns selbst.

Zum vierten – Sie haben es sicherlich schon gemerkt, ich gehe heute ein klein wenig schematisch vor: die Feier des Hl. Abendmahls. In unserer wallonisch-niederländischen Kirchenordnung ist dieses Sakrament nur zu besonderen Anlässen vorgesehen. So wundern Sie sich vielleicht, was daran wichtig sein könnte. Dabei erinnert uns reformierte Theologie daran, wie besonders wichtig die Bedeutung dieser Mahlfeier ist, ganz gleich, wie oft wir sie feiern.

Die Reformatoren waren sich auch gar nicht einig, wie oft man an den Abendmahlstisch treten sollte. Calvin selbst forderte noch die wöchentliche Feier als Zentrum des Sonntagsgottesdienstes. Nachwachsende Generation verringerten diese Forderung, so dass sich ein monatlicher oder ein quartalsmäßiger Turnus eingebürgert hat. Da können wir uns durchaus etwas bei unseren Geschwistern in der Ökumene abschauen, die mehr Wertschätzung dem gemeinsamen Brotbrechen zukommen lassen.

Nun lehrt uns die reformierte Theologie, zwei Dinge in der Abendmahlstheologie zu meiden: Rückwärtsgewandtheit und Magie. Einige durchaus fundamentale Reformierte, wie es zum Beispiel Zwingli in Zürich gewesen ist, lehrten, dass das Heilige Abendmahl nur eine reine Erinnerungsfeier an den Tod Jesu am Kreuz sei. 

Da wehrt sich etwas zurecht in uns, denn der christliche Glaube fußt ja auf der Auferstehung von den Toten. Wie könnte man sich also an einen Toten erinnern, der wieder auferstanden ist? Den wir als den Lebendigen bekennen und der mit uns durch unser Leben unterwegs ist?

Andere nicht minder fundamentale Theologen glaubten, dass sich wie durch Magie Brot und Wein tatsächlich in den Leib und das Blut verwandeln, wie es etwa Thomas von Aquin lehrte. Nicht ohne Grund wurde den ersten Christen in der Urgemeinde vorgeworfen, sie wären Kannibalen, weil sie ihren Gott essen würden. 

Beides ist nach calvinistischer Theologie falsch, wobei keinerlei Abendmahlslehre bewiesen werden kann. Unsere Abendmahlsfeiern sind Zeichen der Liebe Gottes. Es ist seine Art, uns in den Worten und Zeichen nahe zu kommen und sich in der Feier an unsere Seite zu stellen, wie es das „extra calvinisticum“ lehrt. 

Und schließlich: die evangelische Freiheit. Davon handeln ja sowohl die heutige Lesung aus dem Kortintherbrief (1. Korinther 10, 23-33) als auch der Predigttext aus dem Brief an die Galater. 

Paulus macht die Freiheit deutlich am Beispiel der Beschneidung. Da gab es in der jungen Gemeinde unter den Judenchristen in Galatien Stimmen, die lautstark und im Gegensatz zu Paulus forderten, auch Christen müssten sich beschneiden lassen. Was für jeden frommen Juden, sowohl für Jesus selbst als auch für den Apostel Paulus, ganz selbstverständlich war, weil es im Gesetz des Alten Testaments geordnet war, das machte der Apostel in seiner Verkündigung unter den Heidenchristen nicht zur Bedingung. 

Im Gegenteil. Er stellt fest: „Zu dieser Freiheit von der Beschneidung hat uns Christus befreit.“ Und da steht dann das ganze Evangelium auf dem Spiel, wenn Menschen wieder anfangen, die Beschneidung einzuführen. „Wer damit wieder anfängt, verliert die ganze Freiheit“, sagt Paulus. „Dann müsste er das ganze Gesetz erfüllen, um seiner Rettung gewiss sein zu können.“ An dieser Stelle will er kein Stück weichen oder nachgeben. Dies ist das Zentrum des Evangeliums. 

Wir verstehen Freiheit heute anders. Eher: „Freiheit ist, was mir Spaß macht. Ich lasse mir von niemandem verbieten, wozu ich gerade Lust habe. So frei bin ich.“ Ganz anders Paulus „Denn in Christus Jesus gilt weder Beschneidung noch Unbeschnittensein etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe tätig ist.“ 

Im Glauben lassen Christen sich anbinden an Christus und erleben in solcher Anbindung christliche Freiheit, die sich tätig darin äußert, dass der Nächste im Blick bleibt. Also nicht, was mir Spaß macht oder wozu ich Lust habe, bestimmt meine Freiheit, sondern ich behalte den Nächsten im Blick und frage, was ihm gut tut.

Und so, Carissimi, bin ich wieder beim Beginn meiner Predigt angelangt: der Macht und der Gnade Gottes über alles und alle. Vielleicht hilft uns ein Bild vom Drachen im Herbst, dies zu veranschaulichen: Hoch fliegt er zu den Wolken, zum Himmel!

Fast ist man erinnert an den alten Reinhard Mey-Schlager: „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein.“ Man schaut dem Drachen zu, der in großer Freiheit im Wind am Himmel hin und her fliegt. 

Freiheit heißt in diesem Fall jedoch: Angebunden sein an den Drachenlenker. Wollte er den Drachen loslassen, damit die Freiheit noch größer würde, wäre der Flug jäh zu Ende. Ohne den Halt der Drachenschnur bekommt der Wind keine Kraft hinter dem Drachen. 

Völlig ohne Führung ginge es also nicht in den Freiflug hinein. Der Absturz wäre vorgezeichnet. Vielleicht mag uns dieses Bild helfen, reformatorische Theologie richtig zu verstehen. Die Gnade Gottes ist es, die unser eigenes Leben und das unserer Mitmenschen am Leben erhält, nicht aber in Beliebigkeit oder Bindungslosigkeit. Sondern im festen Glauben, an den HERRN seiner Kirche, der uns durch die Heilige Schrift und das Heilige Abendmahl begleitet und stärkt, damit wir durch die Gnade uns selbst und andere ertragen und tragen können. 

So können wir frei leben und atmen wie ein Drachen am Himmel, der an der Schnur angebunden ist und gerade so seine Freiheit im Flug ausleben kann.  Ohne Grenzen, aber doch im Wissen: „ „Alles ist erlaubt, aber es dient nicht alles dem Guten!“ (1.Korinther 6,12). 

Im Namen Jesu Christi. AMEN